Kulturschock im Heimatland
Mohammed, so der Name der Figur in Ihrem neuen Roman, kommt in Marokko nicht mehr zurecht. Warum nicht? Hat sich das Land so sehr verändert?
Tahar Ben Jelloun: Nein, nicht Marokko hat sich verändert. Wohl aber hat sich meine Figur nicht weiterentwickelt. Als Mohammed zurückkehrt, kommt er mit einer Wirklichkeit in Kontakt, die er so überhaupt nicht erwartet hat. Dabei war Marokko für ihn immer seine Heimat, daran hat er nicht eine Sekunde gezweifelt. Ein neues Leben in Frankreich zu finden, hat ihn nie interessiert. Er wollte arbeiten und Geld verdienen und seine Familie ernähren und dann zurückkehren. Nichts anderes.
Aber wie die meisten Angehörigen seiner Generation – jener Generation, die in den 1960er Jahren nach Frankreich kommt – macht er sich sehr merkwürdige Vorstellungen vom Leben dort. Er will ein großes, geräumiges Haus bauen, damit seine Kinder mit ihm kommen und dort mit ihm leben. Dieser Sinn für Idyllen zeigt, dass er überhaupt nicht begriffen hat, was sich in Frankreich inzwischen abgespielt hat. Daher kommt sein Unbehagen und ich würde sogar sagen, der Beginn eines Wahnsinns.
Zugleich porträtieren Sie Mohammed als sehr sympathischen, stillen, zurückhaltenden Menschen.
Ben Jelloun: Ja. Er ist kein Fanatiker, auch kein Dschihadist. Er versteht kaum etwas von dem, was sich heute rund um den Islam ereignet. Bei Männern wie ihm handelt es sich um sehr einfache Menschen. Sie haben immer einen sehr friedlichen Islam gelebt. Eines Tages entdeckt er, dass eine totalitäre Ideologie existiert, die von sehr weit herkommt: aus dem Irak, aus dem Jemen, aus Pakistan. Sie lehrt Dinge, die sich vom Verhalten und Weltbild älterer Marokkaner absolut unterscheiden. Es ist traurig, dass der Islam derzeit von Ignoranten manipuliert wird – von sehr unheilvollen Leuten, die gefährlich für die gesamte Welt sind. Zunächst bedrohen sie den Islam und die Muslime. Dann aber bedrohen sie die westliche Welt. Und diese Fanatiker töten vielmehr Muslime als Bürger der westlichen Welt.
Gleichzeitig hat Ihr Protagonist auch einige verquere Vorstellungen. So ist er absolut dagegen, dass seine Tochter einen Christen heiratet.
Ben Jelloun: Auch das ist eine Erfahrung, die die Angehörigen dieser Generation häufig machen. Sie haben Schwierigkeiten mit der Vorstellung, dass die Freiheit des Einzelnen auch für ihre eigenen Kinder gilt. Sie sind der Ansicht, dass ihnen ihre Kinder gehören, wie ein Gegenstand. Darum sagen sie ihnen: Du bleibst ruhig und tust, was ich dir sage. Denn ich bin dein Vater. Außerdem existiert im Islam eine Vorschrift, die es muslimischen Frauen untersagt, einen nicht-muslimischen Mann zu heiraten. Warum? Der Islam argumentiert, ein Muslim könne ohne Probleme eine Nicht-Muslima heiraten, denn der Mann gilt als der Stärkere, Mächtigere, als derjenige, der herrscht. Wenn also eine Muslima einen Nicht-Muslim heiratet, bedeutet das im Umkehrschluss, dass die gemeinsamen Kinder in religiöser Hinsicht dem Vater folgen werden. Meiner Ansicht nach ist das eine veraltete Vorstellung. Ich denke nämlich, dass die Kinder der Mutter viel näher stehen – und zwar überall, in afrikanischen oder arabischen Gesellschaften oder sonst wo. Die Mutter hat größeren Einfluss auf sie als der Vater. Über all das kann man reden. Aber dieser Marokkaner will nicht reden. Es schockt ihn, dass seine Tochter einen Nicht-Muslim heiraten könnte.
Ihre Figur steht also zwischen zwei Kulturen, ist nirgends mehr zuhause.
Ben Jelloun: Ja. Denn die Franzosen interessieren sich für die Generation der in den 1960er Jahren eingewanderten Marokkaner nicht sonderlich. Sie sorgen sich vielmehr um deren Nachfahren. Sie sind zwar Franzosen, gelten aber als Ausländer. Er ist auch nicht erstaunt, wenn die Franzosen ihm misstrauen, denn er sieht sich selbst als Ausländer, und er weiß, dass ihn die Franzosen nicht kennen. Seine Position ist allerdings noch recht eindeutig. Viel größere Mühe, einen Platz in der französischen Gesellschaft zu finden, haben seine Kinder. Man spricht im Zusammenhang mit den in Frankreich geborenen Nachfahren der Immigranten nicht von "Integration", man spricht von "Förderung", von "Akzeptanz", von "Anerkennung". Genau das aber hat Frankreich noch nicht geleistet.
Sie haben vor kurzem das Vorwort zu dem von Abdellah Taïa herausgegebenen Band "Lettres à un jeune marocain" geschrieben. Darin kritisieren junge marokkanische Autoren die Gesellschaft, in der sie leben. Taïa selbst hat sich vor einiger Zeit öffentlich zu seiner Homosexualität bekannt. Das hat in Marokko große Wellen geschlagen. Es scheint, als sei sehr vieles in Bewegung.
Ben Jelloun: Marokko ist jetzt über 50 Jahre unabhängig. Das Land hat sich modernisiert, es hat sich demokratisiert. Doch fällt ihm die Modernisierung noch etwas schwer, denn das Individuum ist als solches noch nicht anerkannt. Es gibt zwar Frauenrechte, aber auch sie sind noch nicht völlig zufrieden stellend. So gibt es noch einiges zu tun. Gleichzeitig finden sich in dem Land aber auch konservative, ja reaktionäre islamistische Strömungen. Deren Anhänger müssen nicht unbedingt Fanatiker sein. Aber sie sind Islamisten. Sie wollen eine einzig auf dem Arabischen beruhende Kultur, sie fordern Respekt vor den islamischen Vorschriften und so weiter. Sie befinden sich aber in Widerspruch zur Wirklichkeit des Landes. Denn das Land ist auf gewisse Weise bereits säkularisiert. Das sagt man zwar nicht, aber es ist so. Die Menschen feiern sehr gerne, trinken sehr gerne Alkohol, auch die Sexualität hat sich ungeheuer liberalisiert. Aber über all das spricht man nicht offen.
Es gibt also noch einen Rest von Schamkultur.
Ben Jelloun: Ja. Vor allem im Hinblick auf die Homosexualität. Mit ihr verhält es sich anders als in Frankreich. Dort bekennen sich die Homosexuellen im Fernsehen ganz offen zu ihr. In Marokko verharrt man noch in einer Art Scham, man äußert sich zu seiner Sexualität nicht im Fernsehen, ganz egal, ob es sich um Hetero- oder Homosexualität handelt. Aber die Homosexuellen äußern sich heute in Marokko, wie es etwa Abdellah Taïa tut. Das zeigt, dass sich Marokko verändert – und zwar im Gegensatz zu vielen arabischen Ländern, die stagnieren oder sich gar zurückentwickeln.
Einige Entwicklungen in der islamischen Welt bereiten Ihnen dennoch Sorge, nicht nur in Marokko.
Ben Jelloun: Ja, und nicht nur mir. Die islamische Welt ist heute sehr besorgt über die Fanatiker, die in ihren eigenen Ländern sitzen. Den Terrorismus trifft man in vielen Ländern: in Algerien, in Ägypten, im Jemen, im Irak, Pakistan, Afghanistan. Er bezieht sich zwar auf den Islam. Tatsächlich aber verdankt er seine Kraft anderen Einflüssen: der US-amerikanischen Invasion im Irak, der Invasion der Russen in Afghanistan. Da fließt sehr vieles zusammen. Doch diese Aspekte werden im Westen nicht hinreichend wahrgenommen, und so leben wir immer noch unter der Herrschaft der Vorurteile. Und solange das Palästina-Problem nicht endgültig gelöst ist, werden wir mit diesem Missverständnis leben müssen: Islam, fehlende Demokratie, Terrorismus – all das führt zu einer Konfusion, die den arabischen und islamischen Staaten der Welt von überhaupt keinem Nutzen ist.
Interview: Kersten Knipp
© Qantara.de 2010
Tahar Ben Jelloun: "Zurückkehren". Aus dem Französischen von Christian Kayser. Berlin Verlag.
Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de