"In diesem konfessionellen Staat ist Moderne unmöglich"
Walid Dschumblat, der Führer der drusischen Gemeinde des Libanon, empfängt Gäste in seinem Palast in Beirut, der hinter zwei bewaffneten Kontrollposten und eisernen Toren verborgen liegt. Während er seinen Gästen arabischen Kaffee anbietet, trinkt er selbst Mate, von dem er behauptet, seine drusischen Vorfahren hätten ihn zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus Argentinien zurückgebracht. Der politische (und während des Bürgerkriegs auch militärische) Führer gehört einer adligen Familie an, die seit 350 Jahren über die Geschicke der drusischen Gemeinde im libanesischen Schuf-Gebirge bestimmt. Jumblatt ist eine umstrittene Persönlichkeit in der libanesischen Politik – der Königsmacher in einem hochgradig konfessionellen System, das auf extrem unbeständigen Koalitionen beruht. Unlängst wechselte er die Seiten, um den neuen Premierminister Najib Mikati zu unterstützen, der unter Beistand der politischen Partei und bewaffneten Miliz Hisbollah nominiert wurde. Das Kabinett seines Vorgängers Saad Hariri war nach dem geschlossenen Rücktritt der Hisbollah-Mitglieder gestürzt worden. Die Hauptstreitfrage ist und bleibt das Sondertribunal für den Libanon, das von den UN nach der Ermordung des Vaters von Saad Hariri und ehemaligen Premierministers, Rafik Hariri, eingerichtet wurde. Es wird weithin angenommen, dass das Tribunal einige Hisbollah-Mitglieder beschuldigen wird, am Attentat beteiligt gewesen zu sein.
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Es sieht so aus, als ob der Libanon auf eine größere Konfrontation zwischen den Anhängern Saad Hariris einerseits und der Hisbollah und ihren Unterstützern andererseits zusteuere. Ist ein Zusammenstoß unvermeidlich?
Walid Dschumblat: Nein, es wird keinen Zusammenstoß geben. Es ist einfach: Einige Menschen müssen schlicht zugeben, dass man manchmal gewinnt und manchmal eben verliert. So läuft der politische Prozess. Najib Mikati wird eine Regierung bilden, die vom Parlament akzeptiert wird.
Ist es wirklich so einfach? Was ist mit dem Sondertribunal für den Libanon, das einen der Hauptknackpunkte in diesem Konflikt darstellt?
Dschumblat: Das Tribunal dominiert die libanesische Politik seit 2005. Es ist die Hauptfrage, die gelöst werden muss, damit der Libanon voranschreiten kann. Zuerst befürwortete ich das Tribunal. Aber dann erkannte ich, dass die gesamte Glaubwürdigkeit des Tribunals beschädigt worden ist. Ich meine, schauen Sie sich doch die Enthüllungen über die falschen Zeugen an, die im Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" und in der Zeitung "Le Figaro" veröffentlicht wurden. Saad Hariri hat die saudisch-syrische Vereinbarung angenommen (über das Sondertribunal, deren Details geheim gehalten wurden, Anmerkung der Redaktion). Er sagte, er habe sie angenommen, um zu offenen Diskussionen übergehen zu können, die zu Vergebung und Versöhnung führen sollten. Und dann wurde von der Vereinbarung plötzlich abgesehen. Warum? Weil die Vereinigten Staaten sie nicht befürworteten.
Und weshalb?
Dschumblat: Hören Sie, man sollte Saad Hariri davon überzeugen, dass in Wahrheit die Vereinigten Staaten hinter all dem stecken. 2006 überfiel Israel den Libanon. Warum? Weil Israel und die Vereinigten Staaten die Hisbollah entwaffnen wollten. Aber es gelang ihnen nicht und nun wollen sie sich rächen.
Es gab eine Zeit, zu der Sie sich gegen die Waffen der Hisbollah ausgesprochen haben…
Dschumblat: Wir brauchen die Waffen der Hisbollah, um den Libanon zu verteidigen, zumindest bis wir eine nationale Armee haben, um uns gegen unsere Feinde zu verteidigen. Die Vereinigten Staaten sind hauptsächlich auf die Hisbollah fixiert, waren sie schon immer. Ich mache mir große Sorgen, dass der Libanon gegen seine Interessen in einen Sunna-Schia-Konflikt getrieben wird.
Die Opposition hinter Saad Hariri bringt das Schreckgespenst eines neuen Bürgerkriegs auf und behauptet, der Libanon bewege sich dorthin.
Dschumblat: Ich habe den Bürgerkrieg erlebt, ich habe in ihm gekämpft. Die Mitglieder des "14. März", die jetzt den Bürgerkrieg ins Gedächtnis rufen, dagegen nicht. Also haben sie kein Recht über etwas zu sprechen, das sie nicht kennen. Der Bürgerkrieg hat den Libanon Tausende von Leben gekostet. Sie sollten still sein.
Ist es denn möglich, dass wir einen neuen Bürgerkrieg im Libanon erleben könnten?
Dschumblat: Ich bin optimistisch.
Wie würden Sie den libanesischen Staat beschreiben?
Dschumblat: Der Libanon ist eine Demokratie, die auf einem archaischen konfessionellen System, Korruption und Geldwäsche beruht, er ist definitiv keine "Meritokratie". Und das ist ein großes Problem.
Kann der Libanon säkularisiert werden?
Dschumblat: Mein Vater hat versucht, das Land zu säkularisieren, aber er hatte keinen Erfolg. Vielleicht wird eines Tages eine Revolution stattfinden, die die gesamte korrupte politische Klasse wegfegt. Aber im Moment ist der Libanon durch sein konfessionelles System eingeschränkt und das lässt sich nicht ohne große Umbrüche säkularisieren. Es ist tragisch, aber ich denke, dass Modernität innerhalb dieses konfessionellen Staates schlichtweg unmöglich ist.
Und Sie sind gezwungen innerhalb dieses konfessionellen Systems, das von politischen Dynastien beherrscht wird, zu arbeiten.
Dschumblat: Meine Familie ist seit etwa 350 Jahren verantwortlich für die drusische Gemeinde. Wir waren schon immer politisch eingebunden. Ich werde meinen Sohn Taymore dazu ausbilden, meine Nachfolge zu übernehmen, wenn er nächsten Monat aus Frankreich zurückkehrt, wo er seinen Master in Politischer Wissenschaft abschließt. Aber er wird auch eigene Erfahrungen machen müssen. Es wird eine Weile dauern.
Könnte eine Frau die Führung der Drusen übernehmen?
Dschumblat: Meine Großmutter leitete die Drusen von 1917 bis 1943, nachdem ihr Vater gestorben war. Also ja.
Das drusische Kerngebiet liegt im Schuf-Gebirge, wo Sie ein Naturschutzgebiet eingerichtet haben, das "Cedar-Reservat". Wird genug getan, um die Umwelt im Libanon zu schützen?
Dschumblat: Mir liegt sehr viel daran, das ökologische und kulturelle Erbe dieses Landes zu schützen. Land ist für die Drusen sehr wichtig, wir haben hier jahrhundertelang gelebt. Aber das Land ist einfach zu korrupt, Unternehmer haben zuviel Einfluss und daher ist es sehr schwierig, die Umwelt und das kulturelle Erbe zu sichern. Schauen Sie sich doch die alten Häuser, das kulturelle Erbe an, das in Beirut zerstört wurde. Und es wird weiterhin zerstört, genauso wie die Umwelt. Viele christliche Familien ziehen weg und verkaufen ihr Land an Erschließungsunternehmen. Man kann zwar versuchen, sich darüber zu beschweren, aber es wird niemand zuhören.
Sind Sie stolz, Libanese zu sein?
Dschumblat: Ich bin stolz, Araber zu sein, aber ich würde mich selbst nicht als Libanesen bezeichnen. Dieses Wort beinhaltet viel zu viele schwierige Konnotationen.
Interview: Naomi Conrad
Übersetzung aus dem Englischen von Susanne Kappe
© Qantara.de 2011
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de