Ästhetik des Unappetitlichen
Es gibt Momente, in denen man sich selbst fremd wird. Etwa im Zustand des Rauschs oder auch in Augenblicken extremer Angst scheint der gewohnte Bezug zur eigenen Person verändert und man kennt sich selbst nicht mehr. Es ist, als befände man sich in einem fremden Körper, möglicherweise empfindet man die eigene Existenz sogar abstoßend und kommt sich nicht mehr wie ein Mensch vor, sondern eher wie ein schmutziges Insekt. Eine solche extreme Erfahrung von Selbstentfremdung liegt Rawi Hages Roman "Kakerlake" zu Grunde.
Der Protagonist ist davon überzeugt, die Existenz einer Kakerlake zu führen. Beherrscht von der Vorstellung ein minderwertiges Insekt zu sein, betritt und verlässt der namenlose Anti-Held Häuser und Wohnungen nicht durch Türen, sondern über verborgene Abflussrohre und dunkle Kanalisationsschächte.
Prekäre Lebensumstände
"Die Kakerlake" ist ein junger Immigrant, der nach dem Verlust der Heimat, traumatisiert von Krieg und Gewalt, im winterkalten Kanada durch die Großstadt irrt. Meistens sucht er wie ein Insekt nach Essbarem oder einer Möglichkeit sich irgendwo unterwegs aufzuwärmen. Es verwundert innerhalb dieser Logik nicht, dass das Leben dieses Einwanderers von Drogenkriminalität, Diebstahl und Verwahrlosung gekennzeichnet ist. Je mehr Details aus seiner Lebensgeschichte ans Tageslicht kommen, desto aussichtsloser erscheint die Möglichkeit einer Besserung.
In "Kakerlake" begegnet der Leser von der ersten Seite an bizarren Wahnvorstellungen. Die abgründigen Gedankengänge des Helden jagen ihm manchen Schauder über die Haut, da die Welt einer Kakerlake selbstredend erfüllt ist von Gefahr, Schmutz und Schrecken. Dennoch zeichnet der Roman sensibel und mitreißend die Versuche nach, in denen sich die Kakerlake gegen ihren vorgezeichneten Untergang zu stemmen versucht.
Es gelingt dem notorisch mittellosen Mann, einen Job als Hilfskellner in einem iranischen Restaurant anzunehmen. Obwohl ihn auch dort seine Gedanken häufig in den Untergrund der Kanalisation hinabziehen, er oft von grausamen Rachevorstellungen gegenüber der zahlenden Kundschaft erfüllt ist und die sechzehnjährige Tochter des Hauses ohne Skrupel zu verführen versucht, füllt er seine Rolle leidlich aus und erledigt seine Arbeit eine Zeit lang zur Zufriedenheit seines Vorgesetzten.
Tief sitzende Traumata
Ein zweiter Erzählstrang beschreibt die Sitzungen während einer Gesprächstherapie, zu der der Immigrant nach einem Selbstmordversuch verpflichtet wurde. Die sympathische Therapeutin bemüht sich, einen Zugang zu dem verstörten Patienten zu bekommen. Dabei stellt sich wie nebenbei heraus, dass der junge Mann bereits einen Aufenthalt in einer geschlossenen Psychiatrie hinter sich hat.
Bei einem Scheitern der Gesprächstherapie droht ihm die erneute Einweisung.In den Dialogen mit der Therapeutin gelangen entscheidende, schicksalsträchtige Details aus der Vergangenheit des Protagonisten ans Licht: Der verstörte junge Mann fühlt sich schuldig am Tod seiner Schwester, die von ihrem gewalttätigen Ehemann ermordet wurde, quasi vor seinen Augen.
In den Gesprächen mit der Therapeutin wird die Selbstwahrnehmung des Protagonisten als Kakerlake immer wieder thematisiert und durch die insistierenden Fragen der Therapeutin werden die wahnhaften Zwangsvorstellungen des Immigranten deutlich. Dass die Therapie schließlich scheitern muss, liegt auf der Hand und überrascht kaum. Die Traumata sitzen zu tief.
Unerhörte Kraft, herrliche Wildheit
Das Erstaunliche ist, dass der Roman trotz seiner eminent negativen Hypothek durchaus komische Züge besitzt. Es sind die ans Phantastische, ja Surreale grenzenden Passagen, in denen der Dieb und Kleinkriminelle als leibhaftige Kakerlake durch fremde Häuser und Abflussrohre steigt, die dem Roman erstaunliche Kraft verleihen.
Leider ist die deutsche Übersetzung mangelhaft lektoriert: zahlreiche Rechtschreib- und Grammatikfehler stören den Lesegenuss. Selten jedoch wurde die Spirale aus Exil, Armut und Gewalt in einem zeitgenössischen Roman so nahe und unverstellt zu Papier gebracht wie bei Hage.
Ein weiterer Grund für den hohen Unterhaltungswert ist die Hauptfigur selbst, die trotz ihrer nahezu auswegslosen Lage in der anonymen Großstadt scheinbar nie in Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit versinkt. Fast immer ist der Held umgeben von Freunden, Frauen oder Rivalen aus dem Emigrantenmilieu, die auf einer ähnlichen Lebensstufe wie er selbst stehen.
Vorübergehend findet er sogar Zugang zu Kreisen der Oberschicht. Er beschafft einer Clique reicher Kanadier Drogen, lässt aber keinen Zweifel an seiner Verachtung gegenüber diesen zynischen, in ihrem Wohlstand seelisch kaum weniger verwahrlosten Menschen. Rawi Hages Romas ist von einer unerhörten Kraft und herrlichen Wildheit. Es ist vor allem die Sprache, die dem Roman trotz seiner vorherrschenden Ästhetik des Unappetitlichen ein hohes Maß an Spannung verleiht.
Es gibt Passagen großartiger, metapherngesättigter Untergangsvisionen, in denen das in Schnee und Eis versinkende Montreal zu einem düsteren, apokalyptischen Ort wird. Das Unbehagen in der Kultur wächst sich in solchen Passagen überdeutlich aus zum puren Abscheu vor der Zivilisation. Keine leichte Kost, aber ein gruseliges Lesevergnügen für alle Freunde des schwarzen Humors.
Volker Kaminski
© Qantara.de 2010
Rawi Hage, "Kakerlake", Roman, Piper Verlag 2010. Rawi Hage, geboren 1964, aufgewachsen in Beirut und auf Zypern, erlebte den libanesischen Bürgerkrieg am eigenen Leib. 1982 ging er nach New York, wo er Fotografie studierte. Seit 1991 lebt er als freischaffender Künstler und Autor in Montreal. Für seinen Debütroman "Als ob es kein Morgen gäbe" wurde mit dem höchstdotierten Literaturpreis der Welt für ein Einzelwerk, dem IMPAC-Award, ausgezeichnet.