Gelähmt zwischen Frommen und Säkularen
"Die Muslimbrüder oder wir, das ist jetzt die Frage", meint die koptische Journalistin Karima Kamal von der unabhängigen ägyptischen Tageszeitung Al-Masry al-Youm.
"Es ist wie im Krieg. Man muss sich für eine Seite entscheiden, und ich bin gegen die Muslimbrüder. Jetzt ist nicht die Zeit für Differenzierungen." Kairos Intellektuelle und Liberale sind im Aufruhr, viele haben Angst vor Repressionen der Islamisten, falls das Referendum wie geplant stattfindet und die Wähler die islamistisch geprägte neue Verfassung durchwinken.
Zwar hat Präsident Mohammed Mursi nach massiven Protesten die diktatorischen Vollmachten wieder zurückgenommen, die er sich selbst per Dekret zugestanden hatte. Bei den Liberalen herrscht aber nicht nur große Angst, dass die regierenden Muslimbrüder liberale Freiheitsrechte beschneiden könnten.
Sie befürchten auch, dass radikale Kräfte auf eigene Rechnung gezielt gegen missliebige Personen vorgehen könnten. Denn islamistische Scharfmacher heizen die Stimmung in Kairo an – und dabei ist nicht immer klar, ob diese bewusst gesteuert werden oder ob hier etwas aus dem Ruder läuft. Nahrung erhalten diese Ängste auch, weil die staatliche Ordnung nur teilweise funktioniert und auf die Polizei ohnehin kein Verlass ist.
Islamistische Mobilmachung gegen liberale Kräfte
Besonders deutlich wurde das bei den Pro-Mursi-Demonstrationen der letzten beiden Wochen, bei denen die Muslimbrüder Sympathisanten aus dem ganzen Land herbei karrten. Redner peitschten die Anhänger des Präsidenten mit Sprüchen gegen die liberale und säkulare Elite des Landes auf. Es fielen Drohungen über eine bevorstehende "Säuberung der liberalen Medien". Sprüche wie "unsere nächste Verabredung wird auf dem Tahrirplatz sein und wer von den Liberalen getötet wird, kommt direkt in die Hölle" sorgen für große Unruhe unter den Liberalen.
"Das hat doch nichts mit Religion zu tun", sagt die Psychiaterin und Aktivistin Basma Abdel Aziz. Die schmale Frau mit den kurzen schwarzen Locken hat tiefe Ringe um die Augen. Sie ist als Kolumnistin der Zeitung Al-Shourouk eine recht bekannte Person in Kairo und findet die gegenwärtige Entwicklung "beängstigend".
Hassparolen gegen Säkulare wie bei der Demonstration der Muslimbrüder vor der Universität von Kairo hatte sie bei einer öffentlichen, vom Fernsehen live und landesweit übertragenen Demonstration in Ägypten noch nie gehört. "Derart aggressive Äußerungen vor einer großen Menschenmenge, von denen viele Analphabeten sind, finde ich bedrohlich". Für sie kann es aber auch nicht die Lösung sein, dass sich Islamisten und Liberale auf dem Tahrirplatz und vor dem Palast des Präsidenten in Heliopolis bekriegen. Sie findet, die Liberalen müssten sich mehr den drängenden sozialen Problemen im Land stellen.
Gravierende ökonomische Probleme
Mohammed Mursi hatte im Wahlkampf vollmundig versprochen, in den ersten hundert Tagen seiner Präsidentschaft die Lebensbedingungen seiner Landsleute spürbar zu verbessern. Passiert ist aber nichts. Während die Islamisten mit ihrem Machtpoker das Land lähmen, verfällt die Wirtschaft in beängstigendem Ausmaß. Die Devisenreserven haben sich seit dem Umsturz etwa halbiert und liegen jetzt bei nur noch rund 15 Milliarden US-Dollar. Dabei braucht Ägypten das Geld dringend, zum Beispiel für Nahrungsmittelsubventionen, ohne die die Ärmsten nichts zu essen haben.
Währenddessen funktioniert noch nicht einmal die Verwaltung. Basma Abdel Aziz nennt die Zustände im Gesundheitsministerium chaotisch. Seit dem Amtsantritt von Mursi im Juni 2012 gab es fünf Ministerwechsel, keiner der neu ernannten Minister habe nur irgendwelche Anstalten gemacht, um die drängenden Probleme im Gesundheitswesen anzugehen. Korruption sei genauso verbreitet wie vorher. Ein Bemühen der Regierung, das Gesundheitssystem zu verbessern, kann die Psychiaterin nicht erkennen.
Enttäuscht von der Revolution
Während sich die Eliten im Kulturkampf zwischen einer liberalen und einer stärker islamischen Ausrichtung wähnen, wächst bei den Armen die Enttäuschung über eine Revolution, die ihnen bis jetzt keinerlei Verbesserungen gebracht hat. Rund 35 Prozent der Ägypter leben nach Angaben der Weltbank an der Armutsgrenze, etwa 40 Prozent sind Analphabeten. Ihre Frustration birgt den eigentlichen sozialen Sprengstoff für Ägypten.
"Unser Hauptproblem in Ägypten ist die grassierende Armut", sagt Raghda El-Ebrashi, Dozentin für Management-Strategien an der Deutschen Universität in Kairo. Die Dozentin engagiert sich neben ihrer Tätigkeit an der privaten deutschen Universität für die Verbesserung der Chancen von Arbeitslosen auf dem völlig überlasteten ägyptischen Arbeitsmarkt. Sie trägt Kopftuch, stammt aus einer privilegierten Familie und weiß trotzdem um die oft verzweifelte Lage der Arbeitslosen und Unterprivilegierten.
Ihr Fazit zur derzeitigen Lage am Nil: "Es sind die Armen, die vor allem unter der schlechten Wirtschaftslage leiden. Wenn es nicht bald eine Lösung gibt, dann schlittern wir wirklich in einen Bürgerkrieg."
Claudia Mende
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de