An den Schaltstellen der Macht

Schritt für Schritt erweitert der ägyptische Präsident Mohammed Mursi seine Kontrolle über den Staatsapparat. Kritiker werfen ihm Machthunger vor. Doch die Muslimbrüder weisen dies entschieden zurück.

Von Matthias Sailer

60 Jahre lang bestimmte die Armee die Politik Ägyptens. Ein Präsident, der nicht aus dem Militär stammte, war unvorstellbar. Als es mit Mohammed Mursi dann noch ein Muslimbruder wurde, trauten viele Ägypter ihren Augen kaum. Über Jahrzehnte hinweg hatten die Militärherrscher die Mitglieder dieser islamistischen Organisation unterdrückt.

Es überraschte daher auch nicht, dass der Militärrat, der das Land seit dem Sturz Mubaraks regierte, die Machtfülle des neu gewählten Präsidenten massiv einschränkte. Mitte August schließlich schlug Mursi zurück. Zusammen mit jüngeren Mitgliedern des Militärrats versetzte er den bisherigen Vorsitzenden dieses Gremiums und viele andere Generäle in den Ruhestand. Der Einfluss des Militärs auf die Politik hat sich seither erheblich verringert.

Und Mursi nutzt seine neu gewonnene Handlungsfreiheit, um seine Macht weiter zu stabilisieren. Systematisch besetzt er inzwischen Schlüsselpositionen im Staatsapparat mit seinen Leuten. Obwohl vor allem liberale Ägypter Angst vor einem autoritären Muslimbruderstaat haben, wollen ihm die meisten eine Chance geben.

So sieht es auch Doaa Mohamed, eine 24-jährige Aktivistin, die für eine im Bildungsbereich tätige Nichtregierungsorganisation arbeitet: "Wenn wir Mubarak verjagen konnten, können wir das gleiche auch mit Mursi machen. Ich denke, er weiß, dass das ägyptische Volk keine Angst mehr hat wie früher. Deshalb glaube ich nicht, dass er so etwas vorhat. So dumm ist er nicht."

Medien am Pranger

Andere sind da jedoch weitaus skeptischer. Sie werfen Mursi beispielsweise vor, er würde die Pressefreiheit attackieren. Nur wenige Tage nach dem Austausch der alten Militärführung ordnete die Justiz die Abschaltung des besonders anti-islamistischen Fernsehkanals Al-Farain an. Gleichzeitig wurde der Chefredakteur der Tageszeitung Al-Dustour wegen Beleidigung des Präsidenten inhaftiert.

Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich ein ausgewogeneres Bild. Kurz nach der Verhaftung des Redakteurs erließ Präsident Mursi ein Gesetz, das die Inhaftierung von beschuldigten Journalisten vor einem Gerichtsprozess verbietet. Der Redakteur wurde daraufhin umgehend freigelassen.

Demonstranten auf dem Tahrir-Platz; Foto: picture-alliance/dpa
Die Armee im politischen Abseits: Die Entmachtung des Obersten Militärrats durch Präsident Mursi hatte bei vielen Menschen Begeisterung ausgelöst. Tausende Ägypter auf dem Kairoer Tahrir-Platz feierten die Absetzung Tantawis als Sieg über das Militär; Foto: picture-alliance/dpa

​​Mursis Vizepräsident hat zudem ein neues Mediengesetz angekündigt. Es sieht eine neue unabhängige Medienaufsicht vor, die den bisher umfassenden Einfluss des Staatsapparates zurückdrängen soll. Die Zeitung Al-Dustour und auch der Sender Al-Farain sind außerdem keine Unbekannten.
Seit Monaten führten sie systematische Lügen- und Beleidigungskampagnen vor allem gegen die Muslimbruderschaft.

Hany Al-Deeb, Leiter der Muslimbruderschaft im Ausland, warnt daher vor absoluter Freiheit in der Berichterstattung: "Was bedeutet Pressefreiheit? Wenn morgen jemand David Cameron angreift und sagt: "Deine Frau ist eine Prostituierte!" wird er dafür zur Verantwortung gezogen oder etwa nicht? Aber es ist etwas anderes, Kritik zu üben. Man kann kritisieren, das ist in Ordnung."

Aus der Schusslinie

Auch das Berater-Team des Präsidenten und die Chefredaktionen der Staatsmedien besetzte Mursi überwiegend mit ihm gewogenem Personal. Hany El-Deeb weist die Kritik daran jedoch scharf zurück: "Nennen Sie mir ein Land auf dieser Welt, in dem eine Partei die Mehrheit im Parlament gewonnen hat und wo der Präsident der Vorsitzende seiner Partei ist, in dem diesen gesagt wird: 'Eure Leute dürfen nicht die Regierung und das Präsidententeam bilden!' Das ist nirgendwo so."

Mursi macht es seinen Kritikern nicht einfach. So sind unter den zehn neu ernannten Provinzgouverneuren zum Beispiel nur vier Mitglieder der Muslimbruderschaft. Drei Gouverneure stammen aus Militär und Polizei. Machthunger kann man den Muslimbrüdern hier also nur schwer vorwerfen.

​​Besonders klug ist auch die Ernennung eines Militärs als Gouverneur für die instabile Sinai-Provinz, denn sollte es dort wieder zu Anschlägen militanter Islamisten kommen, sind Mursi und die Muslimbruderschaft zunächst aus der Schusslinie.

Widerstand des Staatsapparats

Auf den größten Widerstand stoßen die Muslimbrüder und ihr politischer Arm, die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei, jedoch innerhalb des Staatsapparates. Insbesondere die berüchtigten Sicherheitsdienste Mubaraks wehren sich gegen Reformversuche.

Abdel Moati Ibrahim Zaki, Leiter der Parteizentrale der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei des Distrikts Giza, sieht das Innenministerium denn auch als eine der größten Herausforderungen:

"Wir müssen das Innenministerium neu ausrichten. Das ist eine enorme Aufgabe. Die hohen Beamten werden wir Schritt für Schritt entfernen. Wir kennen ihre Namen, aber wir können sie nicht alle auf einmal ersetzen, sonst bricht alles zusammen."

Bisher verläuft Mursis Machtausbau recht erfolgreich. Das liegt vor allem daran, dass er es geschafft hat, weder die Bevölkerung noch das Militär durch seine Vorgehensweise allzu sehr zu verärgern. Der beste Gradmesser dafür ist die Straße: Demonstrationen gegen Mursi bleiben klein und erreichen selten mehr als einige hundert Teilnehmer.

Matthias Sailer

© Qantara.de 2012

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de