Europa-Ansichten eines streitbaren Intellektuellen
Unter den vielen arabischen Reisenden, die im 19. Jahrhundert Europa bereisten, sticht Ahmad Faris al-Shidyaq (1804-1887) als schillernde Figur heraus. Der Schriftsteller, Journalist, Linguist, Übersetzer und Herausgeber der ersten (regierungs-)unabhängigen arabischen Zeitung al-Dschawa'ib, war ein brillanter Intellektueller, in vielerlei Hinsicht progressiver als die bekannteren Vordenker der nahda, der arabischen Renaissance und ein streitbarer Geist. Barbara Winckler stellt ihn vor.
Der Zeitgenosse von Victor Hugo und Gustave Flaubert, Edgar Allan Poe und Charles Dickens unterhielt Kontakte zu europäischen Orientalisten und Intellektuellen ebenso wie zu arabischen (Reform-)Denkern. Als Meister der arabischen Sprache, der die Kunst der Rhetorik und die Feinheiten der Lexik beherrschte, war er zugleich einer ihrer wichtigsten Erneuerer:
Er trug erheblich zur Entwicklung einer modernen, von übermäßiger Rhetorik befreiten (Zeitungs-)Sprache bei und prägte zahlreiche moderne Begriffe wie etwa das arabische Wort für Sozialismus. Shidyaq führte ein außerordentlich bewegtes Leben, von dem hier nur einige Eckdaten erwähnt seien.
Reisender zwischen Orten und Religionen
Faris al-Shidyaq wurde in Ashqut, gelegen im heutigen Libanon, geboren. Als gebürtiger Maronit zum Protestantismus übergetreten, was zu jener Zeit eine gefährliches Unternehmen war sein Bruder starb in maronitischer Haft , ging er 1825 nach Kairo. Von 1834 an arbeitete er 14 Jahre lang im Dienst der amerikanischen Presbyterianermission als Lehrer und Korrektor in Malta.
Von der Londoner Society for the Propagation of the Gospel 1848 nach England berufen, um an einer neuen der ersten modernen Übersetzung der Bibel ins Arabische mitzuarbeiten, hielt er sich in den folgenden neun Jahren an verschiedenen Orten in England sowie in Paris auf. Er ließ sich von seiner ägyptischen Frau scheiden und heiratete eine Engländerin, wodurch er die englische Konsularprotektion erwarb.
1857 nach Tunis übergesiedelt, konvertierte er zum Islam, möglicherweise um sich den Zugang zu Ämtern innerhalb des Osmanischen Reiches zu erleichtern. Tatsächlich wurde er 1860 vom osmanischen Sultan nach Istanbul berufen.
Wie schwer es ist, Shidyaq einzuordnen, zeigen auch die Umstände seiner Beisetzung: Nach Shidyaqs Tod 1887 waren sich die Konfessionen uneinig, wer für ihn 'zuständig' sei. Schließlich wurde sein Leichnam nach einem interreligiösen Gebet zwischen dem christlichen und dem drusischen Teil des Mont Liban begraben.
Literarisches Kunstwerk
Die Erfahrungen und Eindrücke von Europa, die Shidyaq schildert, gehen in Tiefe und Breite weit über die anderer Reisender hinaus. Betraut mit vielfältigen Aufgaben oder auch auf der Suche nach einer Anstellung , zog Shidyaq unter oftmals äußerst schwierigen materiellen wie ideellen Umständen zwischen verschiedenen Orten hin und her.
Ganz anders als etwa der ägyptische Azhar-Scheich und spätere Regierungsbeamte Rifa'a Rafi' al-Tahtawi, der sich im - sicheren, aber auch engen - Rahmen einer offiziellen Studienmission ausschließlich in Paris aufhielt.
Im Unterschied zu dessen eher faktischem Bericht ist Shidyaqs 1855 in Paris erschienenes al-Saq 'ala al-saq fi ma huwa al-Faryaq (zu Deutsch etwa Ein Bein über das andere geschlagen oder auch Plauderei über die Person des Faryaq), das in – zuweilen sehr freier Übersetzung - 1991 in Paris erschien, zudem ein literarisches Kunstwerk, und daher nicht rein dokumentarisch zu lesen.
Das etwa 700 Seiten starke Werk in vier Teilen, dessen letzter überwiegend den Aufenthalten in Europa gewidmet ist, bewegt sich zwischen den Genres: kein klassischer Reisebericht, keine wirkliche Autobiographie und keine rein lexikalische Studie, ist es doch all dies zugleich.
Der Text, der das Leben des Protagonisten Faryaq (ein Phantasiename, der unschwer als Zusammenziehung des Vor- und Nachnamens des Autors zu erkennen ist) nachzeichnet, bietet zudem Diskussionen philosophischer wie gesellschaftlicher Art, Schilderungen der bereisten Orte sowie sprachliche und literarische Exkurse.
Die vielfältigen Themen werden oftmals in Streitgesprächen zwischen Faryaq und Faryaqiyya, seiner intelligenten, gebildeten und selbstbewussten Frau, abgehandelt. Die kritische Darstellung, die sowohl die Errungenschaften wie auch die negativen Seiten der modernen europäischen Zivilisation umfasst, darunter die sozialen Zustände im Europa der industriellen Revolution, strotzt vor Ironie, gegenüber den anderen wie sich selbst.
Kritik und Lob für Europäer
Bemerkenswert ist, dass Shidyaq Europa nicht als monolithischen Block darstellt, sondern vielmehr nach Land und sozialer Schicht unterscheidet. Im Vergleich zu Frankreich steht England meist besser da: Shidyaq kritisiert zwar, jegliches Handeln dort sei profitorientiert und es mangele an Lebenskunst, spontanen Gefühlsäußerungen, Freigiebigkeit und Gastfreundschaft.
Im Ganzen erscheint der Eindruck jedoch positiv. England war sein erstes Gastland, er selbst dort gut gestellt, und vielleicht übernahm er gar die Vorurteile der Engländer gegenüber den Franzosen. Shidyaq lobt die Aufrichtigkeit, Zuverlässigkeit und Treue der Engländer sowie den freien Umgang der Geschlechter miteinander.
Besondere Aufmerksamkeit gilt den Frauen: In England seien sie bescheiden, treu und reinlich, in Frankreich sei dagegen nicht nur die mangelnde Reinlichkeit der Frauen zu beklagen wie überhaupt der elende Zustand der Straßen, die Hygiene und die Sitten. Die Französinnen stellten ihre Reize zur Schau, zeigten sich tyrannisch gegenüber den Männern und verlangten einen aufwendigen Lebensstil.
Voller Lob ist der Autor für die institutionalisierten Formen des öffentlichen Lebens in England. Alle genössen die gleichen Rechte, und es herrsche keinerlei Willkür von Seiten der Autoritäten. In seinem späteren, 1867 erschienenen Kashf al-mukhabba 'an funun Urubba, eher ein Reisebericht der klassischen Art, zeichnet Shidyaq bereits ein positiveres Bild von Frankreich als Kulturnation mit kultiviertem savoir-vivre.
Ein Provokateur bis heute
Shidyaq war zweifellos ein streitbarer Intellektueller, der vor keinem Tabu zurückschreckte: Bibelkritik, erotische Schilderungen, das Eintreten für die Rechte der Frau und für die Trennung von Staat und Religion, scharfe Kritik am christlichen Klerus im Libanon, an Großgrundbesitzern und am Konfessionalismus, all dies war für die damalige Zeit äußerst provokant und ist es teilweise bis heute.
Dass Shidyaq in der arabischen Welt nicht die ihm gebührende Anerkennung genießt, ist sicherlich darauf zurückführen. Eine angemessene Würdigung seines umfangreichen Werks steht noch aus.
Barbara Winckler
© Qantara.de 2005
Qantara.de
Dossier: Reisen durch Jahrhunderte und Kontinente
Abenteuerlust, Wissensdrang oder Exotik – all das können Gründe für eine Reise in ferne Länder sein. Schon immer brachen Frauen und Männer in den Orient oder nach Europa auf. Der eine fühlt sich in seinen Vorurteilen bestätigt, der andere entdeckt seine Liebe zum Unbekannten.