"Wir gründen gerade das Berlin von morgen"
Hinter der blauen Tür, im Innenhof des kleinen Fachwerkhauses unter schattenspendenden Feigenbäumen und Weinreben, kommt eine Welt zusammen. Menschen, die sich im Leben nie über den Weg gelaufen wären, weil es auf dieser Welt Visaverfahren gibt, die trennen, nicht verbinden, treffen sich hier in Berlin-Schöneberg, auf der breiten Potsdamer Straße, neben einem marokkanischen, einem syrischen Restaurant und einem leerstehenden Geschäft mit Girlanden im Schaufenster. Sie treffen sich im Khan Aljanub, in der "Herberge des Südens". Einem arabischen Buchladen mitten in Berlin.
Hier gibt es die Biografie von Michelle Obama, die Geschichte von der Raupe Nimmersatt auf Arabisch und rund 4000 Romane aus Beirut, Kairo oder Ramallah. Im ersten Stock finden sich arabische Romane in deutscher Übersetzung, etwa vom ägyptischen Literaturnobelpreisträger Nagib Mahfuz oder dem sudanesischen Schriftsteller Tayeb Salih.
Aber eigentlich ist Khan Aljanub vor allem ein Ort der Begegnungen: Hier können Syrer Palästinenser kennenlernen, Ägypter Libanesen und Marokkaner Jordanier. In der arabischen Welt gibt es keine Reisefreiheit, man lebt nebeneinander her, obwohl man dieselbe Sprache spricht. Doch in Berlin treffen arabische Nachbarn erstmals aufeinander, sie lernen sich kennen, tauschen sich aus. Sie diskutieren, streiten, trinken Kaffee, lesen, rauchen, sehr viel sogar.
Ort der Begegnung: Berlin als arabische Exilhauptstadt
2019 hat der ägyptische Soziologe Amro Ali einen vielbeachteten Essay veröffentlicht, in dem er Berlin als arabische Exilhauptstadt bezeichnete, als Zufluchtsort für arabische Intellektuelle und Kulturschaffende vor allem nach dem Arabischen Frühling. In der Wahrnehmung vieler ist Berlin vor allem als vermeintliche Hauptstadt der arabischen Clans in den Schlagzeilen, die in vielen Bereichen kriminell unterwegs sind: Prostitution, Drogenhandel, Erpressung.
Doch Ali hat einen anderen Blick auf die deutsche Hauptstadt: Er vergleicht sie mit dem New York der 1930er Jahre für jüdische Intellektuelle, die aus Europa fliehen mussten, und fordert: "Die arabische intellektuelle Community in Berlin muss sich einen Namen, eine Form und eine Art von Mandat erarbeiten. Das könnte eine Denkschule, eine politische Philosophie oder sogar eine ideelle Bewegung beinhalten - und alle bereichern durch eine tiefere Auseinandersetzung mit der arabischen Welt."
Heute, drei Jahre später, hat diese Szene noch mehr Gestalt angenommen. Manche sprechen schon von Berlin als "neuem Damaskus" oder "neuem Kairo". Immer mehr panarabische Organisationen lassen sich in der deutschen Hauptstadt als Verein eintragen, etwa das Network of Arab Alternative Screens (NAAS), das arabische Kinokultur vernetzten und fördern will, oder das Febrayer Network, ein panarabischer Zusammenschluss unabhängiger Medienorganisationen. Sogar während der Corona-Pandemie wuchs die Szene weiter: 2020 eröffneten das Al-Berlin-Café in Kreuzberg, das Buchgeschäft Khan Aljanub und das Kulturzentrum Oyoun in Neukölln, das Raum für dekoloniale, queer-feministische und migrantische Sichtweisen bietet, nach dem Motto: Kultur neu denken.
Doch erst geht es zurück ins Khan Aljanub. Heute stellt ein junger Syrer sein erstes Buch vor, im Publikum sitzen ältere Herren mit Poloshirt und Brille und eine Gruppe von Jüngeren mit Tanktops, Bauchtaschen und schwarzem Nagellack. Der Titel des Buchs: "Berlin". Mohammed Sami Alkayial, 36, Brille, Vollbart, weit aufgeknöpftes Hemd, schreibt über das Berlin der nahen Zukunft 2029, er nennt diese Zeit "die schwarzen Zwanziger" und setzt sie in Kontrast zum Berlin der Goldenen Zwanziger (1924-29), bekannt als Blütezeit der deutschen Kunst, Kultur und Wissenschaft.
Er entwirft eine düstere Zukunftsvision: In der Welt der organisierten Kriminalität ruft Mamo ein fiktives Königreich "Sham" aus, doch dann bekommt er es mit dem deutschen Ermittler Peter Klöckner zu tun. Nach der Lesung und mindestens fünf Zigaretten hat er kurz Zeit. Welche Botschaft er mit dem Buch senden möchte? "Es gibt so viele unterschiedliche Weltanschauungen in dieser großen Stadt, aber sie werden nicht ausgetauscht. Jeder bleibt in seiner Blase und beansprucht die Wahrheit für sich, das wollte ich aufschreiben." Was er persönlich von Berlin hält? "Die Stadt ist meine neue Heimat. Damaskus würde ich wahrscheinlich nicht mehr wiedererkennen."
Am Tag zuvor gab es hier ein All-female-Podium, auf Arabisch. "Alles fühlt sich hier ein wenig an wie Science-Fiction", sagt der Libanese Jowe Harfouche, Filmemacher und Geschäftsführer des Network of Arab Alternative Screens (NAAS). Gerade planen sie bei NAAS ihr nächstes Event: Eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob sich Blockchain-Technologie für kulturelle Organisationen eignet. Insgesamt unterstützt die Organisation mehr als zwanzig Kinos in der arabischen Welt. Harfouche, blondierte Haare und bunte Socken, sitzt neben Fadi Abdelnour, Inhaber von Khan Aljanub und Grafikdesigner, Yasmeen Daher, Philosophin und Direktorin des Februar-Netzwerks und Muhammad Jabali, Inhaber der Al-Berlin-Bar.
Berlin ist in Bewegung, freigeistig - und noch erschwinglich
Die meisten von ihnen sind mit Stipendien nach Berlin gekommen und geblieben. Warum? Die Stadt ist in Bewegung, freigeistig - und im Vergleich zu anderen europäischen Hauptstädten noch erschwinglich, da sind sich die vier einig. Sie finden, dass Berlin durch die Flüchtlingssituation von 2015, die vielen Syrer in der Hauptstadt - laut Statistischem Bundesamt rund 40 000 - eine arabische Blütezeit erlebt. Die Syrer hätten sich mittlerweile gut eingelebt und Zeit für die wirklich wichtigen Dinge im Leben: Kultur, Kunst, Dialog. Das zeigt sich auch an den gestiegenen Einbürgerungen. 2021 wurden 19 100 Syrer zu Deutschen - fast dreimal so viele wie 2020.
Muhammad Jabali, der Barbesitzer, ist Anfang vierzig, hat Locken, bunte Fingernägel - und erzählt, wie sich Berlin in den vergangenen Jahren für arabische Einflüsse und Geschmacksrichtungen geöffnet hat. So gebe es jetzt auch mal frische Molokhia-Blätter in Berlin zu kaufen, die grünen spinatähnlichen Blätter einer Malvenpflanze. Daraus macht man eine Art grüne Suppe, in die man Fladenbrot tunkt. Ja, sogar Akkoub bekommen Liebhaber der arabischen Küche inzwischen in Berlin - eine distelähnliche Pflanze, geschmacklich irgendwo zwischen Spargel und Artischocke, die es früher nur im Februar in entlegenen Bergdörfern in Palästina, Libanon, Syrien und Jordanien zu kaufen gab. "Früher mussten wir warten, bis Verwandtschaft kam oder bis man mal wieder runterflog. Jetzt gibt es all das einfach nebenan", sagt Jabali.
Auf die Frage, ob er seine Heimat Palästina trotzdem nicht manchmal vermisse, sagt er: "Ich kehre jeden Tag zurück." In seiner Bar kommen unterschiedliche Kulturen zusammen, Bands aus aller Welt spielen bei ihm, gerade organisiert er ein Festival für den Herbst. Am Vorabend spielte eine französisch-brasilianische Gruppe, Frauen mit Kopftuch trinken bei ihm auch mal ein Radler. "Wir gründen gerade das Berlin von morgen", sagt Jabali.
Dann schaltet sich Fadi Abdelnour ein. Der Deutsch-Palästinenser ist am längsten in Berlin, seit 2002. Der 44-Jährige, der mit Frau und Kind in Berlin lebt, erzählt von dieser einen Party 2017, auf der er plötzlich Heimweh bekam. "Ich hatte mich schon dran gewöhnt, dass ich keine arabische Musik mehr höre und kaum noch Arabisch spreche. Aber auf diesem Fest war auf einmal alles möglich: Ich war umgeben von neuen Leuten", erzählt Abdelnour, der zehn Jahre lang künstlerischer Leiter des Arabischen Filmfestivals Berlin war. Als er Vater wurde, spürte er den Wunsch, seiner Tochter arabische Bücher vorzulesen. Doch wo sollte er die herbekommen? Er nahm es selbst in die Hand und begann, gemeinsam mit seinen Partnern Rasha Hilwi und Mohammad Rabie Verlage zu kontaktieren und Bücher zu bestellen.
"Man muss sich das mal vorstellen: Es ist komplizierter, ein Buch von Beirut nach Kairo zu bringen, als von Beirut nach Berlin", erzählt Fadi Abdelnour. "Berlin ist mittlerweile auch für arabische Künstler aus der Region ein wichtiger Ort geworden." Das kann auch die bekannte ägyptische Journalistin und Drehbuchautorin Rasha Azab bestätigen, sie wird am nächsten Tag ihren Roman "Gesalzenes Herz" im Khan Aljanub vorstellen. Darin geht es um die ägyptische Generation nach der Revolution vom 25. Januar 2011. Rasha Azab muss laut lachen, als man sie fragt, ob sie auch bald nach Berlin ziehen wird. "Nein, ich gehöre nach Ägypten, dort sind die Menschen, die ich liebe. Aber Berlin hat eine spannende arabische Szene, die man nicht mehr ignorieren kann."
Das war auch der Grund, warum Yasmeen Daher nach Berlin kam. Sie lebte zuvor in Kanada, wurde gerade fertig mit ihrem Doktor in Philosophie und wollte am liebsten zurück in die arabische Welt - doch nach dem Arabischen Frühling regierten in den meisten Ländern autoritäre Regimes, die freies Arbeiten unmöglich machten.
Berlin ist Zufluchtsort für kritische Geister
"Dann erzählte mir eine Freundin von Berlin und der arabischen Szene, und ich bewarb mich für ein Stipendium", erzählt die Mutter eines Sohnes. Sie lebt nun seit sechs Jahren in der Hauptstadt. Bei ihrer Arbeit als Projektmanagerin für das Mediennetzwerk Febrayer ist sie viel mit der Region beschäftigt. Die Organisation will das Publikum in der arabischen Welt, gerade in Zeiten politischer Zensuren, mit verlässlichen und unabhängigen Informationen versorgen. Gleichzeitig versucht Daher eine neue Community rund um das Netzwerk in Berlin aufzubauen.
Die meiste Zeit fühlen sich die vier Wahlberliner frei in ihrem Alltag. Nur manchmal ist da die Sorge, wie sich die Stimmung in Deutschland entwickelt. Die Inflation, der Krieg in der Ukraine, Engpässe bei der Gasversorgung - das sind Entwicklungen, die nicht gerade förderlich für den sozialen Frieden sind, glauben sie. Jabali erzählt von seinen letzten drei Versuchen, Visa für libanesische Künstler zu bekommen, die allesamt abgelehnt wurden. Nach der Hafenexplosion in der Hauptstadt Beirut im August 2020 wollen viele junge Libanesinnen und Libanesen nach Berlin auswandern, erzählen sie.
Tariq Bajwa vom Kulturzentrum Oyoun (arabisch für Augen) kennt diese Schwierigkeiten. Selbst bei Künstlern, die häufiger in Europa auftreten, sei die Visabeschaffung sehr schwierig. Wenn sie es dann aber mal nach Berlin geschafft haben, ist Bajwa immer wieder überrascht, wie schnell die Tickets ausverkauft sind - und wer alles im Publikum sitzt. Englischsprachige Expats, Deutsch-Araber, extra angereist aus unterschiedlichen Teilen Deutschlands, Deutschdeutsche.
Um ins Oyoun zu kommen, nimmt man die U7 nach Neukölln, fährt also in die arabisch geprägte Gegend: Vorbei an kleinen Schaufensterpuppen, die festliche Turbane und Aladinschuhe tragen, das klassische Outfit für jede Beschneidungsparty, vorbei an einem Typen mit Dreadlocks, der Autofahrer an der roten Ampel bespaßt, indem er sich auf eine Leiter stellt und auf Ball und Skateboard balanciert.
Der 35-jährige Bajwa aus dem Emsland in Niedersachsen führt durch die großzügigen Räume des Kulturzentrums, drei Stockwerke, Dutzende Seminarräume, an den Wänden kleben Poster wie "Black in Berlin" oder Leuchtschilder mit der Aufschrift "We have no time for beef". Hier finden unter anderem Lesungen, Vernissagen, Theaterstücke, Konzerte, Festivals und Workshops statt. Obwohl er nun schon einige Jahre in Berlin lebt, entdeckt er immer noch neue Ecken in der Hauptstadt. "Hier ist so viel im Wandel, das macht Berlin so spannend."
Ob in diesem Berlin gerade ein neues, postrevolutionäres "Wir" entsteht, ein Motor für politische Ideen, die bis in die Region hineinwirken, wie Amro Ali in seinem Essay hofft, wird sich in den kommenden Jahren zeigen. Bis dahin ist Berlin erst einmal ein Zufluchtsort für kritische Geister, die gerade nirgendwo anders so sein können wie hier.
© Süddeutsche Zeitung 2022