Mord im Bordell – Raja, Sakina und die 17 verscharrten Frauen
Der ”Chawaga”, der Ausländer, äußerte Sonderwünsche. Sonst hätten die Leichen vielleicht noch lange unter der Erde gelegen. Der Herr aus Italien wollte das Haus in Alexandria im November 1920 mit seiner Familie beziehen. Die Vermieter hatten die Vorbewohner hinausgeworfen, weil sie dort »Diebe, Zuhälter und Prostituierte versammelten« und »das Haus in ein Bordell verwandelten«. Nun wollten sie einen respektablen Mieter für die drei Etagen in der Makoris Gasse 5. Und wenn der “Chawaga” Wasserhähne in Küche und Bad wünschte, sollte er sie bekommen.
Am Montag, 15. November 1920, sollte Ahmed Mursi, den alle wegen seiner Sehschwäche »den Behinderten« nannten, unter dem Hausboden nach Wasserleitungen suchen. Er schlug einige Steinplatten aus dem Boden, grub in der Kalk- und Kiesschicht darunter und staunte, wie locker der Boden war.
Mit der Hacke traf er etwas Hartes. Eine Wasserleitung? Mursi stieg ein entsetzlicher Gestank entgegen. Er tastete in das Loch, bekam Fleisch zu fassen, Knochen. Dann hielt er etwas in der Hand, das er ganz nah an seine fast blinden Augen hielt – einen Menschenarm.
Wie sich später herausstellte, war es der Arm einer seit drei Monaten vermissten Frau namens Nabawija Bint Ali. Und unter dem Zimmer, das vorher Sakina Ali Hammam bewohnt hatte, lagen zwei weitere Leichen. 14 Körper wurden in der Nähe gefunden, die meisten unter der Wohnung von Sakinas Schwester Raja.
Waren die Frauen wirklich die Haupttäterinnen?
17 Frauen, fast alle Prostituierte, waren zuvor in Alexandrias Stadtteil Labban verschwunden, einige waren zuletzt mit einer der Bordellbetreiberinnen, Sakina und Raja, gesehen worden. Eine Freundin von Nabawija Bint Ali hatte sogar bemerkt, dass Sakina deren Kleidung trug. Mehrmals hatte die Polizei die Schwestern vorgeladen. Doch erst mit der Suche nach der Wasserleitung begann die Aufklärung einer der aufsehenerregendsten Serienmorde in der Geschichte Ägyptens.
Die bekannte Version geht so: Die Schwestern Raja und Sakina Ali Hammam betrieben im und nach dem Ersten Weltkrieg mehrere Bordelle in Alexandria. 1919 und 1920 ermordeten sie 17 Frauen, raubten ihren Goldschmuck und vergruben sie. 1921 erhielten sie als erste Frauen in Ägypten die Todesstrafe.
Wie Jack the Ripper in Europa sind die beiden Schwestern im arabischen Raum zu "Ikonen des Grauens" geworden; mit Verweis auf sie warnen Eltern ihre Kinder davor, im Dunkeln auf die Straße zu gehen. Sie haben aber auch den Weg in die Popkultur gefunden: Die Theaterkomödie über Raja und Sakina kennt jeder in Ägypten, hinzu kommen Serien, Filme und Bücher.
Aber ermordeten die beiden Bordellbetreiberinnen wirklich wegen ein paar goldener Armreife ihre Mitarbeiterinnen, darunter enge Freundinnen? Und was war die Rolle der vier Männer, die mit ihnen zum Tode verurteilt wurden? Politische Umbrüche im damals kolonisierten Ägypten, Sensationslust der Medien und immer neue Interpretationen für die Unterhaltungsindustrie – das alles erschwerte die Wahrheitssuche. Sie ist auch gut ein Jahrhundert nach den Verbrechen nicht beendet.
Ein Jahrhundert später
Von Alexandrias Hauptbahnhof wie auch vom Hafen sind es zu Fuß 20 Minuten nach Labban. Wegen der günstigen Lage war das Viertel um 1900 dicht besiedelt, ein Anlaufpunkt für alle, die eine Bettgefährtin, schnelles Geld oder eine betäubende Flasche Wein suchten. Auf den Marktplätzen tummelten sich Straßenhändlerinnen und Prostituierte, in den Bars britische Soldaten und Arbeiter aus Ägypten, Malta oder Griechenland. In den günstigen Wohnungen, zimmerweise vermietet, drängten sich Flüchtlinge aus Osteuropa oder Syrien.
Alexandria war damals als Hotspot für Prostitution bekannt. Zwar versuchte die britische Kolonialregierung, die Branche strengeren Regeln zu unterwerfen, um ihre Soldaten vor Geschlechtskrankheiten zu schützen. Doch viele Sexarbeiterinnen wanderten in die Illegalität ab. Wie Raja und Sakina, die mehrere Bordelle eröffneten und Prostituierten auch ihre eigenen Zimmer vermieteten.
An einem Novembersonntag ein Jahrhundert später hängen graue Wolken über Alexandria, es riecht nach Staub und Meer. Große braune Pfützen bedecken Labbans belebte Straßen. An Ständen verkaufen Händler gefälschte Markentaschen, Billigschmuck und Berge von Auberginen. Eine verbeulte Tram teilt sich die enge Hauptstraße mit Pferdekarren, Lieferwagen und Tuk-Tuks, aus denen blecherne Musik dröhnt.
Auf einem weitläufigen Platz mit großen Palmen hängen zwischen alten Holzfenstern an einer langen Hauswand Porträts von Raja und Sakina, dazu Bilder ihrer Männer und des damals zuständigen Polizeibeamten. Die Gäste des Cafés nebenan rauchen Shisha, trinken Tee und spielen Domino. Unter Bildern der Prostituierten aus den zwanziger Jahren sitzt ein Mädchen mit rosa Schultasche neben ihrem Vater.
"Die Männer waren nur Handlanger"
Die Freilichtausstellung richtete Saeed Mohammed ein, gebürtiger Labbaner mit spitzen Lederschuhen und spitzbübischem Grinsen. Er und sein Bruder eröffneten vor neun Jahren den Kiosk »Bazar Raja und Sakina« am Platzrand, genau da, wo früher die Polizeistation stand. Direkt gegenüber wohnte Sakina, wenige Blocks weiter Raja. Manche Anwohner seien eher genervt, wenn sie auf die düstere Geschichte ihres Viertels angesprochen würden, erzählt Mohammed, 32. Er wollte sie für Touristen zugänglich machen.
»Das Krasse ist doch, dass sie die Leichen in ihren Häusern begraben haben«, sagt Mohammed. »Wie konnten sie auf Leichen schlafen?« Allein der unerträgliche Geruch – »sie haben Weihrauch benutzt, um ihn zu übertünchen«. Raja und Sakina waren in seinen Augen die Haupttäterinnen. Und ihre Männer? »Die waren Handlanger der Frauen. Sie haben die Leichen nur begraben.«
Die Entdeckung des ersten Opfers sprach sich 1920 in Windeseile in Alexandria herum. Rund 20 Frauen und Männer wurden verdächtigt, doch die Zeitungen nahmen sofort Raja und Sakina ins Visier. Jemand druckte ihre Porträts und verkaufte sie in der Stadt.
»Ihre Namen wurden in das Gedächtnis der Menschen eingraviert, mit blutigen Buchstaben, um die die Zungen kreisen und die die Lippen nicht oft genug wiederholen können«, schrieb Salah Eissa in seinem Buch »Die Männer von Raja und Sakina«.
Der inzwischen verstorbene ägyptische Journalist recherchierte um die Jahrtausendwende als erster ausführlich die Biografien der Schwestern und Details der Ermittlungen anhand von Polizei- und Gerichtsakten. Seine Überzeugung: Den Frauen sei Unrecht geschehen, indem man sie zu »Ikonen des Bösen« gemacht, sie ihrer Persönlichkeit und Geschichte beraubt habe.
Die Härten der Wirtschaftskrise - damals wie heute
Die beiden stammten aus dem Süden Ägyptens und zogen, weg von der Armut dort, immer am Nil entlang in Richtung Norden: »auf der Suche nach einem Bissen, der den vernichtenden Hunger bezwingen könnte«, bis zu ihrer Ankunft in Alexandria, wo »enge, dunkle Zimmer in noch engeren Gassen liegen, die sich wie Schlangen umeinanderwinden, und aus denen die Winde des Elends und der Geruch der Fäulnis wehen«, wie Eissa es blumig schilderte.
Auf seinem Buch fußt eine Fernsehserie von 2005. Darin ist Raja eine schlichte, ständig schwangere Frau mit Schnüren statt Ringen in den Ohrlöchern, ihrem faulen, kriminellen Ehemann treu ergeben. Seinetwegen liegt sie ihrer jüngeren Schwester Sakina auf der Tasche, einer Alkoholikerin mit koketten, schwarz umrahmten Augen, die mit ihrem Mann versucht, auf dem rechten Weg zu bleiben.
Doch Ägypten erlebte eine harte Zeit: Im Ersten Weltkrieg monopolisierte die britische Besatzungsmacht die Seerouten und blockierte so den Handel, der für Arbeitsplätze gesorgt hatte. Danach kehrten für die Kriegswirtschaft rekrutierte Männer ohne Jobs zurück. Zugleich verdoppelte sich der Preis von Grundnahrungsmitteln wie Bohnen oder Linsen zwischen 1919 und 1920.
Auch heutige Ägypter müssen mit steigenden Lebensmittelpreisen und einer schier endlosen Wirtschaftskrise zurechtkommen. Eissas Buch und die Serie weckten Sympathien für die Schwestern, indem sie das Elend offenbarten, das die Familie Ali Hammam in die Illegalität trieb.
Und in den 2220 Seiten Ermittlungsakten fand der Autor Erstaunliches: Raja und Sakina wurden lediglich als Komplizinnen verurteilt, ihre Ehemänner dagegen als Mörder und Haupttäter zusammen mit zwei Männern vom Sicherheitspersonal des Bordells. Beide Schwestern sagten zudem aus, die Männer hätten sie zum Mitmachen gezwungen.
Beispielhaft rollte Eissa einen der Morde auf: Nasla Abulleil, das zweite der 17 Opfer, war Schneiderin, arbeitete aber immer wieder auch in Rajas und Sakinas Bordell. Weil viele Männer durch den Krieg abwesend waren, verdienten sich mitunter auch Frauen aus der Mittelschicht durch Sexarbeit etwas dazu. Nasla, 24, war zugleich eine enge Freundin der Schwestern und die Geliebte von einem der Sicherheitsmänner.
Laut den Gerichtsakten wurde sie am 4. Januar 1920 unter einem Vorwand in Rajas Wohnung gelockt, wo die Männer warteten. Eine starke Mischung aus Whiskey, Cognac, Wein und Arrak sollte Nasla gefügig machen. Als sie gehen wollte, hielten die Männer sie fest und drückten ihr einen nassen Lappen auf Mund und Nase. Da Raja den Anblick nicht ertragen konnte, verließ sie den Raum. Sakina verharrte in Schockstarre und nässte sich sogar ein.
»Das Mädchen gurgelte, als sei ihr Mund voller Wasser oder als würde sie ertrinken«, sagte sie später dem Ermittler. »Sie hielten sie fest, bis sie aufhörte zu atmen.« Nasla starb, wie alle Opfer, den Erstickungstod. Die Bande vergrub sie unter dem Zimmerboden und behielt ihren Goldschmuck.
Dass es allein um Ketten und Armreife ging, hält Nefertiti Takla indes für falsch. Mehrere Opfer, schrieb die Historikerin 2016 in ihrer Dissertation, hätten kaum Schmuck getragen, als sie ermordet wurden. Takla sieht eine Reihe von Motiven: Fast alle Frauen hatten vorher regelmäßig in Rajas und Sakinas Bordell gearbeitet.
Manche sollen sie um Geld betrogen haben oder zu unliebsamen Konkurrentinnen geworden sein, andere hatten Beziehungen und Konflikte mit den Männern der Bande. Einige könnten vor ihrem Tod vergewaltigt worden sein, was vor Gericht kaum Beachtung fand.
Von der Presse dämonisiert
Am 21. Dezember 1921 erhielten Raja und Sakina als erste Frauen im modernen Ägypten die Todesstrafe durch Erhängen – obwohl sie nicht als Haupttäterinnen verurteilt worden waren. »Bevor es überhaupt zum Prozess kam, hatte die Presse sie schon monatelang dämonisiert«, sagt die Historikerin Elena Chiti, die an der Universität Stockholm zu dem Fall forscht. Mit ihrer vulgären Sprache, ihrer Affinität zu Alkohol und sexueller Freizügigkeit seien Raja und Sakina »zum Symbol des moralischen Verfalls unter der britischen Kolonialherrschaft« geworden.
In Ägypten gipfelte eine antikoloniale, nationalistische Bewegung in der Revolution von 1919, begleitet von Idealbürger-Vorstellungen, so Chiti: »Weibliche Kriminelle passten nicht in das Bild der neuen ägyptischen Frau, die notwendig war, um ein neues Ägypten aufzubauen.« Mit den aktuellen Quellen könne man zeigen, dass das Todesurteil nicht gerecht war.
Als Chiti bei einem Alexandria-Besuch vor einigen Jahren Raja und Sakina als Verbrecherinnen bezeichnete, reagierten einige Menschen empört. Sie behaupteten, die Schwestern seien als Antikolonialistinnen einer Verschwörung der britischen Besatzer zum Opfer gefallen – eine heute in Ägypten verbreitete Deutung.
Den Grund sieht Chiti in der Revolution von 2011, die nach zwei Jahren in einer Militärdiktatur endete: »Der Mythos des heldenhaften Banditen entsteht vor allem dann, wenn Menschen sich unterdrückt fühlen und keine Aussicht haben, sich dagegen zu wehren.«
Im Laufe eines Jahrhunderts hat sich das Bild gewandelt: Erst waren die Schwestern Symbole des Bösen, nun gelten sie Teilen der ägyptischen Öffentlichkeit als Opfer von Armut und Unrecht, gar als Widerstandskämpferinnen gegen den Kolonialismus.
»Jede Epoche, vielleicht sogar jede Person hat ihre eigene Version von Raja und Sakina«, sagt Elena Chiti. Welche Rolle die beiden wirklich bei den Morden spielten, ist heute kaum noch zu klären. Ihre Geschichte verrät jedoch einiges über all jene, die sie in so vielen Facetten erzählt haben.
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