Ist die „Halbdemokratie“ am Ende?

Ein Wähler in Kuwait gibt seine Stimme ab.
Vier Wahlen in vier Jahren: ein Wähler in Kuwait-Stadt, Juni 2023 (Foto: picture alliance / AA | J. Abdulkhaleq)

Ein halbes Jahr nach der Auflösung des Parlaments in Kuwait haben die Abgeordneten ihre Arbeit noch nicht wieder aufgenommen. Doch vieles spricht dafür, dass das parlamentarische System überlebt. 

Von Hossam Sadek

Im vergangenen Mai löste Emir Mishal al-Ahmad al-Jaber al-Sabah das kuwaitische Parlament auf und setzte sieben Artikel der Verfassung außer Kraft. Plötzlich schien er ins Wanken geraten zu sein, dieser demokratische Prozess im Land, der in der Golfregion einzigartig ist. Das Parlament dort verfügt über echte Befugnisse und hat der Exekutive in der Vergangenheit immer wieder die Stirn geboten. 

Die außer Kraft gesetzten Verfassungsartikel betrafen in erster Linie die Rolle des Parlaments und seine Kontrollfunktion, wohl nicht zuletzt aus dem Grund, dass Auseinandersetzungen zwischen der Legislative und der Exekutive wiederholt die Verabschiedung von Gesetzen und Wirtschaftsreformen behindert hatten. 

Es war ein radikaler Schritt, den der Emir wählte. Ein Schritt, der auf viele Außenstehende wie ein Zeichen des Anfangs vom Ende des parlamentarischen Systems in Kuwait wirken mag. Doch wer sich schon länger mit der Politik Kuwaits beschäftigt, erkennt, dass historische Präzedenzfälle auch andere Schlüsse zulassen.

Das parlamentarische Leben in Kuwait ist schon seit 2003 turbulent: Kein Parlament, mit Ausnahme des 2016 gewählten, hat seinen verfassungsmäßigen Aufgaben in diesem Zeitraum bis zum Ende nachkommen dürfen. Im Gegenteil: Das Parlament wurde in dieser Zeit achtmal vor Ablauf der Legislaturperiode aufgelöst – und die jüngste Suspendierung ist in dieser Statistik noch nicht einmal enthalten.  

Zudem ist das Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive in Kuwait seit jeher unausgewogen, da die Mehrheit im gewählten Parlament nur einen Teil der Regierung stellt. Der Premierminister wird vom Emir ernannten. Kuwait ist also ein halbparlamentarisches System. Dieses Ungleichgewicht hat in der Vergangenheit immer wieder zu politischen Patt-Situationen geführt, insbesondere im Parlament, wo eine widersprüchliche Kombination aus linken, populistischen und islamistischen Ideologien vertreten ist. 

Zeitgleich ist Kuwait in der Golfregion, deren Staaten in den vergangenen Jahren in ihre wirtschaftliche Diversifizierung investiert haben und sich zu globalen Handelszentren entwickeln, in ökonomischer Hinsicht immer weiter ins Hintertreffen geraten. Obwohl Kuwait der fünftgrößte Ölproduzent der OPEC ist, hat das Land – im Gegensatz zu den Nachbarstaaten – seine Finanzmittel kaum dazu genutzt, in andere Wirtschafts- und Energiesektoren sowie seine Infrastruktur zu investieren. Im Sommer kämpfte Kuwait sogar wiederholt mit Stromausfällen. 

Ein im September 2023 veröffentlichter Bericht des Internationalen Währungsfonds (IMF) führt die wirtschaftlichen Probleme Kuwaits darauf zurück, dass „häufige Regierungswechsel und die politische Pattsituation zwischen Regierung und Parlament wichtige fiskalische und strukturelle Reformen behindert haben“. 

Der Emir von Kuwait, Mishal al-Ahmad al-Jaber al-Sabah, nimmt am 1. Dezember 2024 am 45. Gipfeltreffen des Golfkooperationsrates im Bayan-Palast in Kuwait-Stadt teil.
Herrscht aktuell mit einer Technokraten-Regierung: Emir Mishal al-Ahmad al-Jaber al-Sabah (Foto: picture alliance / Anadolu | Amiri Diwan of Kuwait/Handout)

Regierung ohne Kontrolle

In diesem Kontext hat die Suspendierung des Parlaments die kuwaitische „Halbdemokratie“ in unsichere Zeiten gestürzt. Die ursprüngliche Rede des Emirs und der anschließende Erlass enthielten zwar einen komplexen Plan für die nächsten Schritte nach der Schließung des Parlaments, einschließlich der Bildung eines Expertenausschusses, der der Regierung innerhalb von sechs Monaten Vorschläge zur Verfassungsänderung zur Diskussion vorlegen sollte. 

Geplant war, dass dieser Prozess entweder durch ein öffentliches Referendum oder durch eine Genehmigung der nächsten Nationalversammlung abgeschlossen wird. Der Erlass des Emirs stellte jedoch weder klar, wie dieser Expertenausschuss gebildet werden sollte, noch enthielt er konkrete Ziele. Im Gegenteil: Im Erlass war lediglich von einer „soliden demokratische Regierungsführung“ und der „Einhaltung der islamischen Scharia“ die Rede. 

Zudem erließ der Emir in Abwesenheit des Parlaments schon bald mehrere Dekrete und bildete eine technokratische Regierung, die in der Folge noch mehrere Personalwechsel erfuhr. Positiv zu vermerken ist, dass in der neuen Regierung mehr Frauen vertreten sind. Mit drei von Frauen besetzten Ministerämtern hat Kuwait einen Höchstwert in seiner Geschichte erreicht. Gleichzeitig hat die neue Regierung, die ohne parlamentarische Kontrolle agiert, ihre Agenda noch immer nicht offengelegt. Wie es um die Diversifizierung der Wirtschaft bestellt ist und welche anderen Prioritäten gesetzt werden, ist weiterhin völlig unklar.  

Kuwaitis stehen hinter dem Parlament

Auffallend ist, dass es in Kuwait nach der Aussetzung des Parlaments im Mai keine größeren Proteste gab, obwohl das Land in der Vergangenheit wiederholt Demonstrationen aus politischen und sozialen Gründen erlebt hatte, insbesondere in den Jahren 2006, 2011 und 2019. Die Bevölkerung verhielt sich diesmal absolut ruhig und schien der Entscheidung des Emirs nach Jahren des politischen Stillstands sogar eher wohlwollend gegenüberzustehen. 

Das Schweigen der Bevölkerung sollte jedoch nicht als Wunsch interpretiert werden, den demokratischen Prozess gänzlich aufzugeben. Vielmehr spiegelt es das Verlangen danach wider, das politische System zu reformieren und die Mängel zu beheben, die sich aus der Existenz eines gewählten Parlaments und eines ernannten Premierministers ergeben – einer Struktur, die die politische und staatliche Arbeit massiv erschwert. Die hohe Wahlbeteiligung von 62 Prozent bei der letzten Parlamentswahl im April 2024 spiegelt das anhaltende demokratische Engagement der Kuwaitis wider. 

Diese Annahme wird durch eine nach der Aussetzung des Parlaments durchgeführte Umfrage bestätigt. Diese hat ergeben, dass 69 Prozent der Kuwaitis glauben, dass strukturelle Probleme und insbesondere das Ungleichgewicht zwischen Legislative und Exekutive, die Ursache für die wiederkehrenden politischen Blockaden im Land sind. Sie machen sowohl die Exekutive als auch das Parlament für Krisen verantwortlich und schieben die Verantwortung offensichtlich nicht nur einer dieser Institutionen zu. Dennoch befürwortet die große Mehrheit der Menschen eine parlamentarische Kontrolle der Regierung sowie freie und faire Wahlen und ist der Meinung, dass die Demokratie die beste Regierungsform für das Land ist. 

Trotz oder vielleicht gerade wegen der Tatsache, dass die demokratischen Freiheiten laut Bertelsmann Transformation Index (BTI) 2024* in den vergangenen Jahren zurückgedrängt wurden, zeigen die Kuwaitis ein langfristiges Engagement für die Demokratie. Die Meinungsfreiheit war zuletzt von einem hohen Wert von 7 von 10 auf einen niedrigen Wert von 3 und die Versammlungsfreiheit auf 4 abgerutscht ist. Das Engagement zeigt sich auch daran, dass Intellektuelle und Schriftsteller:innen in den letzten Monaten immer wieder versucht haben, eine öffentliche Debatte über eine Verfassungsänderung und demokratische Reformen anzuregen

Die Bürgerinnen und Bürger sind gefragt

Trotz des schwierigen Umfelds und einiger negativer Signale in den vergangenen Monaten wird die Auflösung des Parlaments den demokratischen Wandel in Kuwait nicht endgültig untergraben. Ein Kollaps der Demokratie ist nicht zu erwarten. Auch weil bereits mit der ersten Rede des Emirs klar war, dass Kuwait seine demokratische Geschichte nicht aufgeben würde. Zudem schützt die Verfassung das demokratisch gewählte Parlament und die Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger. 

In der über 62-jährigen Geschichte Kuwaits hat sich immer wieder gezeigt, wie tief der parlamentarische Geist im Land verwurzelt ist und wie sehr sich verschiedenste Ideologien für die demokratischen Freiheiten einsetzen. Insbesondere in Zeiten, in denen das Parlament suspendiert war, haben Kuwaitis ihren Glauben an die Legislative bewiesen. Für viele ist das Parlament seit der Befreiung von der irakischen Besatzung im Jahr 1991 zur Grundlage der Legitimität des politischen Systems geworden.  

Da das Land seine Abhängigkeit vom Öl überwinden und seine Wirtschaft diversifizieren muss, um aus seiner derzeitigen Stagnation herauszukommen, wird es die negativen Konsequenzen einer langanhaltenden politischen Krise womöglich nicht hinnehmen können. So kam gerade erst eine Studie zu dem Schluss, dass die Aussetzung des Parlaments der Wirtschaft bereits nachhaltig geschadet hat. 

All diese Faktoren sprechen für eine baldige Rückkehr der parlamentarischen Arbeit in Kuwait. Insbesondere deshalb, weil im Dekret des Emirs eine mittelfristige Rückkehr des Parlaments vorgesehen ist. Doch auch nach einem Comeback des gewählten Parlaments wird das strukturelle Ungleichgewicht zwischen Legislative und Exekutive noch gegeben sein. Umso mehr braucht es in Kuwait einen anhaltenden demokratischen Wandel, dessen Erfolg wohl maßgeblich von der Initiative der Menschen im Land abhängen wird. 

 

*Dieser Text wurde im Auftrag des BTI Blog der Bertelsmann Stiftung verfasst. Übersetzung aus dem Englischen: Kai Schnier.

 

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