"Das Übel des Rassismus sitzt auch in Tunesien zu tief"
Am 6. Juni versammelten sich rund 100 Menschen vor dem Stadttheater in der tunesischen Hauptstadt und bezeugten ihre Solidarität mit den Protesten in den USA nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd am 25. Mai. Bei einem Einsatz hatte ein Polizist aus Minneapolis fast neun Minuten lang mit seinem Knie das Genick des Mannes zu Boden gedrückt.
Die Demonstranten verurteilten Diskriminierung und systematische Gewalt in den Vereinigten Staaten wie auch im Rest der Welt und forderten ein Tunesien ohne Rassismus und Menschenrechtsverletzungen. Die Menge hielt Transparente mit Botschaften hoch, wie „Unser Blut hat die gleiche Farbe“, „Wer Rassismus sät, erntet Revolution“, „Keine Freiheit, solange wir nicht gleichberechtigt sind“ und „Dein Kampf ist auch mein Kampf“. Überall waren Sprechchöre zu hören, wie „Ich kann nicht atmen!“, „Schwarze Leben zählen“ und „Keine Gerechtigkeit, kein Frieden“.
Auf der Treppe vor dem Theater saßen vier junge Frauen, die zwei Plakate hoch hielten: „Ich verstehe, dass ich das nie verstehen werde, aber ich stehe zu dir“, stand auf dem einen. Auf dem anderen Plakat stand derselbe Slogan auf Arabisch.
Rassismus ist in Tunesien tief verwurzelt
Eine der Frauen, mit dem Namen Malek, betonte, dass rassistische Äußerungen und Verhaltensweisen von Generation zu Generation weitergegeben würden und weiterhin tief in der tunesischen Gesellschaft verwurzelt seien. „Menschen benutzen täglich diskriminierende und abfällige Wörter für Schwarze, ohne sich dessen bewusst zu sein.“ So werden schwarze Tunesier regelmäßig Kahlouch (abwertend für „schwarz“) und Woussif (Sklave und Diener) genannt.
Meriem, eine andere aus der Gruppe, sagte, Rassismus werde oft nicht offen artikuliert, sondern manifestiere sich als feindselige Haltung. Die alltägliche rassistische Diskriminierung in Tunesien zeige sich an Taxifahrern, die schwarze Fahrgäste nicht abholten, an Ladenbesitzern, die schwarze Kunden nicht bedienen wollten, oder Familien, die gemischte Beziehungen missbilligen, von Mischehen ganz zu schweigen.
Ihrer Ansicht nach glaubten viele hellhäutige Tunesier nicht, dass ihr Land ein Problem habe, obwohl dieses allgegenwärtig sei. „Wir sind heute hier, damit unsere Gesellschaft anerkennt, dass wir ein Rassismusproblem haben“, beharrt sie. „Um ein Problem lösen zu können, muss man es erst einmal wahrnehmen.“
Auch Emna aus der kleinen Gruppe junger Frauen meint, der Wandel müsse auf gesellschaftlicher Ebene stattfinden. „Wir müssen die rassistischen Vorstellungen und Vorurteile, die man uns von Kindheit an eingeimpft hat, aus unseren Köpfen bekommen“, betonte sie. „Wir müssen die Art und Weise ändern, wie wir denken und wie wir uns gegenüber anderen ethnischen Gruppen verhalten. Wir müssen unsere Mentalität ändern.“
Tunesierinnen und Tunesier mit dunklerer Hautfarbe sind oft Ziel verbaler Beschimpfungen und mitunter auch körperlicher Übergriffe. Nach inoffiziellen Schätzungen bezeichnen sich fünfzehn Prozent der Bevölkerung des Landes als schwarz.
Veranstaltet wurde der Protest von der anti-rassistischen Organisation Mnemty und der tunesischen Organisation zur Unterstützung von Minderheiten, ATSM. Mitgewirkt haben zudem weitere zivilgesellschaftliche Organisationen. „Wir stehen heute hier, weil wir 'Nein' zum Rassismus in den USA und anderswo auf der Welt sagen“, erklärte Zied Rouin, Projektkoordinator von Mnemty.
„Wir fordern den tunesischen Staat auf, Strategien und Aktionspläne zur Bekämpfung von Rassendiskriminierung und Fremdenfeindlichkeit auf den Weg zu bringen“, fuhr Rouin fort. Dabei verwies er auch auf den im Nahen Osten und in Nordafrika seit jeher verwurzelten Rassismus, unter dem Schwarze und andere Minderheiten täglich zu leiden hätten.
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Unter den Demonstranten vor dem Stadttheater von Tunis befand sich auch eine Gruppe von Studenten aus Afrika südlich der Sahara. Einige von ihnen stellten das Leiden der Opfer von Polizeigewalt oder Übergriffen aus der Gesellschaft nach – auch die Umstände des Todes von George Floyd. Unter ihnen befand sich Basile Yao, ein junger Mann aus der Elfenbeinküste, der im Vorort Le Bardo von Tunis Migranten aus Schwarzafrika vernetzt. Er überbrachte eine Botschaft von Frieden und Koexistenz und zeigte seine Solidarität für schwarze Amerikaner und Schwarze weltweit.
„Ich glaube, dies ist ein wichtiger Moment“, sagte Basile Yao hoffnungsvoll. „Er wird dazu beitragen, einigen bedeutenden Staats- und Regierungschefs die Augen zu öffnen“. Jeder müsse lernen, den anderen anzunehmen. „Wir müssen lernen, miteinander zu leben.“ Darüber hinaus appellierte Yao an den tunesischen Staat, die Rechte von Migranten aus Schwarzafrika anzuerkennen.
Anti-Rassismus-Gesetze werden schleppend umgesetzt
Tunesien ist seit langem ein regelmäßiges Anlaufziel für Studenten aus Subsahara-Afrika. Das nordafrikanische Land zählt laut der Nationalen Beobachtungsstelle für Migration 4.200 Asylbewerber und 7.000 Studenten. Neben verbalen und körperlichen Übergriffen leiden diese afrikanischen Studenten unter institutionellem Rassismus, wozu Verzögerungen bei der Visavergabe, Probleme beim Zugang zur Gesundheitsversorgung und Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt gehören.
Im Oktober 2018 verabschiedete Tunesien als eines der ersten Länder in der Region ein Gesetz, das Diskriminierung unter Strafe stellt. Zustande kam das Gesetz auf Druck der tunesischen Zivilgesellschaft unter maßgeblicher Mitwirkung der Organisation Mnemty. Personen, die sich rassistisch äußern, zu Hass aufstacheln, rassistische Drohungen aussprechen oder für Rassismus eintreten, müssen mit bis zu drei Jahren Haft und Geldstrafen von bis zu umgerechnet ca. 1.000 Euro rechnen.
Doch die Umsetzung des Gesetzes kommt nur langsam voran. So gab es bis heute nur ein Gerichtsurteil zugunsten eines Diskriminierungsopfers. Im Februar 2019 wurde in der Stadt Sfax eine Frau zu einer fünfmonatigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt. Ihr wurde vorgeworfen, einen Grundschullehrer wegen seiner Hautfarbe verbal und körperlich angegriffen zu haben, nachdem dieser ihre Tochter des Unterrichts verwiesen hatte.
Der Koordinator von Mnemty vermerkte, dass der Staat bei der Umsetzung wichtiger Bestimmungen des neuen Gesetzes bislang kaum Fortschritte gemacht habe. Hierzu zählen die Durchführung von Schulungen und Sensibilisierungskursen im Bildungs- und Medienbereich sowie in Polizei und Justiz.
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Tunesier zeigen sich solidarisch
Tunesien war das erste arabische Land, in dem Menschen nach dem Tod von George Floydin Solidarität mit den schwarzen US-Amerikanern zeigten und gegen rassistische Polizeigewalt auf die Straße gingen.
Aber auch in anderen Ländern im Nahen Osten und in Nordafrika unterstützten Menschen die Black Lives Matter-Proteste in den USA. Einige Initiativen verbanden die Solidaritätsbekundungen für George Floyd mit eigenen Protesten gegen erlittene Polizeigewalt.
Meet the Syrian artists Aziz Asmar and Anis Hamdoun, who painted a mural of #GeorgeFloyd against the backdrop of #Idlib’s ruins https://t.co/yaarLPkzx3 pic.twitter.com/9t5dEAOIWx
— Arab News (@arabnews) June 3, 2020
In Israel zum Beispiel protestierten Ende Mai palästinensische und jüdische Israelis, nachdem israelische Grenzpolizisten den jungen Palästinenser Iyad Hallak erschossen hatten. Der unbewaffnete, unter Autismus leidende Mann hatte sich offenbar aus Furcht vor den Polizisten hinter Müllereimern versteckt. Die Demonstranten hielten Schilder mit der Aufschrift „Palestinian Lives Matter" (palästinensische Leben zählen) hoch und bezogen sich damit auf die Polizeigewalt gegen George Floyd, dessen Tod in vielen US-Städten Proteste auslöste.
Auch in der Türkei fand vergangene Woche eine Demonstration gegen Polizeigewalt statt, bei der Aktivisten Plakate mit dem Bild von George Floyd mit sich führten. In der syrischen Provinz Idlib schlossen sich die Künstler Aziz Asmar und Anis Hamdoun den US-Protesten an: Sie malten ein Wandbild mit Floyds Porträt auf die Ruinen eines Gebäudes zusammen mit den Worten „Ich kann nicht atmen“ und „Nein zum Rassismus“. Fotos des Wandbildes stellten sie anschließend in soziale Medien ein.
Im Libanon erklärten sich regierungskritische Demonstranten in den sozialen Medien unter dem Hashtag #Americarevolts solidarisch mit den US-Protesten. Innerhalb von 24 Stunden war der Hashtag im Libanon populär.
Alessandra Bajec
© Qantara.de 2020
Aus dem Englischen von Peter Lammers