Normalität jenseits der Frontlinie

Die einst heftig umkämpfte nordsyrische Wirtschaftsmetropole Aleppo ist heute eine geteilte Stadt. Doch in dem von den Rebellen kontrollierten Teil scheint langsam der Alltag zurückzukehren. Immer mehr Flüchtlinge aus Aleppo kehren in ihre Stadt zurück, obwohl sich die Wirtschaft nur langsam erholt. Eine Reportage von Peter Steinbach aus Aleppo

Wer in Aleppo ankommt, ist überrascht. Polizisten regeln den Verkehr, Geschäfte sind geöffnet, Zigaretten, Benzin und Fruchtsäfte werden auf der Straße verkauft. Viele der Einwohner der größten Stadt Syriens sitzen auf den Gehsteigen, rauchen Wasserpfeife oder trinken Tee.

In dem von Rebellen kontrollierten Teil von Aleppo scheint Normalität eingekehrt zu sein. Kaum etwas entspricht den Katastrophenberichten, die täglich von den Medien geliefert werden. Tatsächlich ist die Situation in Aleppo nicht mehr mit der von 2012 zu vergleichen.

Im Juli hatte die Freie Syrische Armee (FSA) die Hälfte der Industriemetropole erobert. Kampfflugzeuge und Hubschrauber der Regierungstruppen kreisten ständig über der Stadt, bombardierten und beschossen gleichermaßen zivile wie militärische Ziele. Heute beschränken sich Angriffe meist auf die Frontlinie, die sich zugunsten der FSA ins Territorium der Regimearmee von Präsident Baschar al-Assad langsam, aber stetig vorschiebt.

Abnehmende Luftangriffe

Bomben fallen im Vergleich zum Herbst letzten Jahres relativ selten auf zivile Wohngebiete abseits der Kampflinien. Ein Grund, warum viele Flüchtlinge nach Aleppo zurückgekehrt sind.

Syrerin aus Aleppo arbeitet an einer Nähmaschine; Foto: Victor Breiner
Zaghafter wirtschaftlicher Aufbruch: "In dem von Rebellen kontrollierten Teil von Aleppo scheint Normalität eingekehrt zu sein. Kaum etwas entspricht den Katastrophenberichten, die täglich von den Medien geliefert werden", meint Peter Steinbach.

​​"Es gibt fast keinen Strom und kein Wasser, aber wir wollten in unser Haus zurück. Die schrecklichen Luftangriffe haben abgenommen und die Lage ist halbwegs sicher", sagt ein Vater einer sechsköpfigen Familie, die seit März wieder in Aleppo ist. "Wir ziehen unsere eigenen vier Wände dem Flüchtlingslager vor. Dort konnten wir es nicht mehr aushalten."

Das Familienoberhaupt, das seinen Namen nicht nennen will, hat einen Generator gekauft und das Wasser, das jeden Abend für einige wenigen Stunden aus der Leitung läuft, wird in Flaschen und Bottichen gesammelt. "So geht das einigermaßen. Man kann sich auf alles einstellen und es bleibt einem auch nichts anderes übrig."

Lange Warteschlangen vor den Bäckereien, wie man sie von Fernsehbildern kennt, gibt es nicht mehr. Auf den Märkten wird reichlich Gemüse und Obst angeboten. In Schnellimbissen kann man Hühnchen oder Fleischspieße kaufen. „Die Preise sind zwar doppelt und dreifach so hoch wie vor dem Bürgerkrieg“, meint Jussef, ein ehemaliger Kämpfer, der sich heute auf Aktivitäten im Medienbereich beschränkt. "Aber zumindest gibt es wieder genug zu Essen." Er habe vor wenigen Monaten geheiratet, berichtet er stolz.

"Krieg hin oder her, ich habe sie auf Facebook kennengelernt und sie gefiel mir sofort", erzählt der 26-Jährige schmunzelnd. Nur ein Treffen mit seiner Auserwählten hatte einen großen Haken: Sie wohnte in dem Teil von Aleppo, das von der Regierung kontrolliert wird. "Ich stieg einfach in einen Minibus und bin hinüber gefahren", meint Jussef lapidar. "Ich musste sie sehen." Geheiratet wurde nach Einwilligung der Eltern jedoch im Rebellengebiet von Aleppo.

Beide Teile der Stadt sind nicht hermetisch von einander abgetrennt. Täglich überqueren Minibusse und Taxis die Frontlinie in beide Richtungen. Einige Bewohner arbeiten auf Regierungsseite und dort kann man auf die Bank gehen oder Telefonkarten kaufen.

Fluss des Todes

Das Passieren der Checkpoints der syrischen Armee ist allerdings mit einem großen Risiko verbunden. Nicht alle haben so viel Glück, wie es Jussef bei seinem Grenzwechsel hatte. Im Januar wurden über 60 Leichen auf Rebellengebiet angeschwemmt. Nach Aussagen von einigen Familien der Toten, waren ihre Angehörige nur kurz in den anderen Stadtteil gefahren und nicht mehr zurückgekehrt. Der Queiq-Fluss wurde mittlerweile in Fluss des Todes umgetauft.

In Saif el-Dawla befindet sich das neue Gericht von Aleppo, das von rund 50 Richtern und Anwälten im September letzten Jahres gegründet wurde. Es gibt Kammern für Zivil-, Straf- und Militärrecht. Jeder Bürger kann eine Anzeige machen, die ein Staatsanwalt prüft, bevor sie an den Untersuchungsrichter weitergeben wird. Nach einem Untersuchungsverfahren entscheiden drei Richter das Urteil.

Rebellengruppe der Al-Nusra-Front in Aleppo; Foto: Reuters
Erdrückende Dominanz der radikalen Islamisten: Die "Jabhat al-Nusra" gehört zu den militärisch erfolgreichsten Rebellenbrigaden in Syrien. Viele Syrer befürchten, dass sie nach dem Ende Assads die Scharia zur alleinigen Grundlage der syrischen Rechtssprechung deklarieren wollen.

​​Verhandelt wird bei Kaffee und Tee in einem der kleinen Zimmer der Appartements des zum Gerichtsgebäude umfunktionierten Wohnhauses. "Als rechtliche Grundlage dient die Gesetzesvorlage zur Zivilgesellschaft der Arabischen Liga", erläuterte Untersuchungsrichter Abdullah Karam. "Nur beim Familienrecht wird die Scharia, das islamische Recht, angewandt. Da bilden wir keine Ausnahme zu anderen arabischen Staaten."

Dazu käme der gesunde Menschenverstand und Gesetzestexte des alten syrischen Staates, die nicht alle schlecht gewesen seien. "Das gefällt den Islamisten natürlich nicht", bemerkt ein Anwalt, der beim Untersuchungsrichter gerade zu Besuch ist und unerkannt bleiben will. Er meint damit die radikalen Islamistengruppen wie "Ahrar al-Sham" oder "Jabhat al-Nusra", die von den USA auf die Liste der Terrororganisationen gesetzt wurden. "Sie haben ihren eignen Gerichtshof gegründet und machen uns regelmäßig Probleme."

Vor drei Monaten war der Scharia-Rat gegründet worden. Mitglieder des Rates sind die Islamisten von "Fajr Islam", "Ahrar al-Sham", "Jabhat al-Nusra", die Muslimbrüder und "Liwa Tawhid", die größte Rebellengruppe in Aleppo. Sie gilt als moderat-islamistisch und ist Teil der FSA, was die radikalen Salafistenorganisationen nicht sein wollen.

"Es gibt nur einen Gott und ein Recht", erläutert Abdulkader Saleh. Er sitzt im Scharia-Rat und ist Anhänger des "Jabhat al-Nusra". "Was kann daran schlecht sein, wenn die Leute angehalten werden, nicht zu rauchen und zu trinken, ein gesundes und gottgefälliges Leben zu führen?" Die "Al-Nusra"-Front möchte jeden Menschen Kraft geben und stärker machen, behauptet er überzeugt.

In Zukunft soll es nur mehr ein einziges Gericht geben. "Die Verhandlungen laufen", versichert Saleh. "Aber es ist nicht einfach", fügt er hinzu. "Wie soll das zusammen gehen? Es gibt nur Allah, und sein göttliches Gesetz." Saleh ist überzeugt, in ganz Syrien werde sehr bald ausnahmslos islamisches Recht gesprochen.

"Syrien wird ein islamischer Staat, da besteht kein Zweifel." Alle Mitglieder des Scharia-Rates seien dafür. "Sogar 'Liwa Tawhid'", versichert Saleh. "Jabhat al-Nusra" sei die treibende Kraft und habe die Oberhand. Nur göttliches Recht, keine Wahlen und kein Parlament nach dem Sturz des Assad-Regimes? "Das weiß nur Allah allein", meint Saleh, lacht verschmitzt und verabschiedet sich mit "Salam Aleikum".

Nur ein Sturm im Wasserglas?

Lager für syrische Flüchtlinge in Jordanien; Foto: Reuters
"Wir ziehen unsere eigenen vier Wände dem Flüchtlingslager vor. Dort konnten wir es nicht mehr aushalten", begründet ein Vater einer sechsköpfigen Familie aus Aleppo die Entscheidung, wieder in seine Heimatstadt zurückzukehren.

​​"Für mich ist der Erfolg von 'Jabhat al-Nusra' und anderen islamistischen Gruppen nur ein Sturm im Wasserglas", glaubt der Dr. al-Hadsch Osman. Der Arzt war von "Jabhat al-Nusra" verhaftet worden, nachdem er ihre Flagge in seinem Krankenhaus abgenommen hatte. "Der Mann, der sie aufgehängt hatte, behauptete, ich sei mit Füßen auf ihrem Emblem, das das muslimische Glaubensbekenntnis trägt, herumgetrampelt." Al-Nusra habe das als Verunglimpfung des Islams empfunden.

"Natürlich stimmte das nicht", erklärt Dr. Osman, "und ich wurde gleich am nächsten Tag entlassen." In Aleppo organisiert "Jabhat al-Nusra" die Versorgung mit Mehl für die Bäckereien, repariert Elektrizitätsleitungen, stellt Verkehrspolizisten, transportiert den Müll ab und hat zahlreiche Industriebtriebe wiedereröffnet, um den Stadtbewohnern Arbeit und Brot zu geben.

"Sie versuchen das zivile Leben zu organisieren", sagt Dr. Osman. "Das wird von den Menschen einerseits begrüßt, aber letztendlich nur akzeptiert, weil sie die Macht besitzen."

Nach dem Fall Assads aber werde der Aufstieg der Radikalen sicher ein baldiges Ende finden, glaubt er. "Die Menschen in Syrien werden eine neue Diktatur nicht zulassen", versichert er voller Überzeugung und rückt dabei seine Brille zurecht. "Wir haben eine andere Mentalität."

Ideologische Probleme mit den radikalen Islamisten hat auch Nour Hak. Darüber sprechen will sie allerdings nicht. Die 35-Jährige war vor Beginn des Bürgerkriegs Lehrerin an der Universität und ist jetzt Schuldirektorin – ein Job, der sie täglich 16 Stunden lang beansprucht. "Ob Krieg oder nicht, Bildung ist wichtig und Kinder können nicht zwei Jahre zu Hause sitzen. Sie müssen in die Schule gehen."

Baath-Propaganda hinter Schloss und Riegel

Vor fünf Monaten startete Nour Hak den Unterricht zunächst mit vier Schülern. Heute sind es schon 700 an drei Schulen. Vom alten Unterrichtsystem des Assad-Regimes und seiner Baath-Partei ist nichts mehr übrig. Alle Schulbücher mit Regierungspropaganda sind entsorgt. Zu tausenden liegen sie in einem Abstellraum hinter abgeschlossenen Gitterstäben.

Nour Haks Schulen werden von der Brigade "Liwa Tawhid" finanziell unterstützt. "In unseren Schulen sind die Mädchen und Jungen bis 14 Jahre gemischt", erklärt die Direktorin. "Unsere Lehrer sind nicht verschleiert." In den Schulen, die von radikalen islamistischen Gruppen neu gegründet wurden, ist das ganz anders. "Dort gibt es männliche Lehrer für Jungen, Frauen unterrichten Mädchen und die Lehrerinnen sind von Kopf bis Fuß verschleiert."

Man merkt der Mutter dreier Kinder an, dass ihr dieses Prinzip wenig sympathisch erscheint. Sie will aber darüber weiter nichts sagen. Wer es sich heutzutage in Aleppo mit den Extremisten verscherzt, hat schlechte Karten.

Peter Steinbach

© Qantara.de 2013

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de