Die Textilbranche ist im Aufruhr

Ein kleiner Junge näht in Bangladesch einen Sari
Ein Weber in Narayanganj, Bangladesch. Foto: picture alliance / Zumapress | J. Saha

Das Hasina-Regime ist gestürzt, doch für Bangladeschs Arbeiter*innen hat sich nichts verändert. Seit Wochen demonstrieren und streiken sie. In dem Land, in dem fast alle großen Modelabels produzieren lassen, hatten zeitweise 200 Fabriken geschlossen.

Von Dominik Müller

Eigentlich hatten die Textilarbeiterinnen und -arbeiter in Bangladesch gehofft, dass sich ihre Situation mit dem Sturz des Regimes von Sheikh Hasina Wajeed im August verbessert. Ihre Arbeitsbedingungen gehören zu den schlechtesten weltweit: In der Presse wird Bangladesch auch als „Schmuddelkind der globalen Textilindustrie“ bezeichnet. Fast alle großen Modelabels lassen hier produzieren.

Aber die Hoffnung wurde enttäuscht und schon Mitte August flammten die ersten Proteste rund um die Hauptstadt Dhaka auf, wo sich viele der Textilfabriken befinden. „Die Beschäftigten haben so viele Gründe zu protestieren“, erklärt Anu Muhammad, der zusammen mit Gewerkschafter*innen, Schriftsteller*innen, Künstler*innen, Professor*innen und Studierenden das Committee for Democratic Rights ins Leben gerufen hat. 

„Viele haben monatelang keinen oder nur einen Teil ihres Lohns erhalten, verbale und körperliche Attacken in den Fabriken kommen häufig vor und jeder Versuch, sich gewerkschaftlich zu organisieren wird mit Drohungen beantwortet“, berichtet der seit einem Jahr emeritierte Ökonomie-Professor und Aktivist gegenüber Qantara. Die Proteste seien vor allem spontaner Natur, nur wenige Arbeiter*innen seien gewerkschaftlich oder in politischen Parteien organisiert. „Aber mit ihren Aktionen machen sie den vielen anderen Kolleg*innen Mut, sich ebenfalls für ihre Rechte einzusetzen.“    

Knapp fünf Millionen Menschen arbeiten in etwa 4.000 Textilfabriken, die Waren im Wert von 46 Milliarden US-Dollar produzieren – mehr als 80 Prozent des gesamten Exportvolumens des Landes. Der Textilsektor ist das wirtschaftliche Rückgrat Bangladeschs. Allein in Gazipur, Sarvar und Ashulia, Produktionszentren am Rande der Hauptstadt, waren im September wegen Streiks und Protesten zeitweise knapp 200 Fabriken geschlossen. Einige Unternehmer*innen fürchteten, die Auslieferung für den Export könnte gefährdet sein.

Repression gegen Gewerkschaften

Manche der Produzenten in Bangladesch, von denen viele gute Verbindungen zum alten Regime pflegten, hatten über längere Zeit überhaupt keine Löhne mehr gezahlt und wurden Zielscheibe besonders heftiger Proteste. In einigen Fällen wurden auch Maschinen und Fahrzeuge zerstört und beschädigt. Im September schlossen sich außerdem Beschäftigte aus der pharmazeutischen Industrie den Protesten an. Bangladesch ist ein wichtiger Hersteller von Generika, die in vielen Ländern des globalen Südens zum Einsatz kommen, darunter Antibiotika und Schmerzmittel. 

Die Übergangsregierung mobilisierte daraufhin die Industriepolizei, eine 5.000 Personen starke Einheit, die 2010 von Sheikh Hasina ins Leben gerufen wurde und als Hilfstruppe der Unternehmer*innen gilt. In der Vergangenheit ging sie immer wieder mit brachialer Gewalt gegen streikende Beschäftigte vor. 

„Seit Jahren sind die Arbeitnehmer*innen in Bangladesch mit schweren staatlichen Repressionen konfrontiert, darunter die gewaltsame Niederschlagung friedlicher Proteste durch die berüchtigte Industriepolizei und Einschüchterungsversuche, um die Gründung von Gewerkschaften zu verhindern“, schreibt der internationale Gewerkschaftsdachverband ITUC in seinem Global Rights Index 2024.

Die Proteste flauten etwas ab, nachdem Gespräche angekündigt wurden: Am 23. September kam es schließlich zu einem Treffen zwischen dem Arbeitsministerium, Gewerkschaftsvertreter*innen und Arbeitgeber*innen. 

18 Forderungen hatten die Gewerkschaften vorgebracht, 16 wurden akzeptiert – darunter eine Erhöhung des Essensgeldes und eine Verlängerung des Mutterschaftsurlaubs von 112 auf 120 Tage. Aber weder wollten sich die Arbeitgeber*innen auf neue Tarifverhandlungen noch auf eine sofortige Erhöhung der Löhne um zehn Prozent einlassen. 

Frauen arbeiten in Bangladesch an Nähmaschinen
Fast fünf Millionen Menschen in Bangladesch arbeiten in etwa 4.000 Textilfabriken. Foto: Pixabay

„Die Drei-Parteien-Gespräche waren eine gute Initiative und einige Beschlüsse sind ermutigend“, sagt Anu Muhammad, „aber selbst die Punkte, in denen man sich einig war, wurden in vielen Fabriken dann nicht umgesetzt – deshalb erleben wir erneute Unruhen.“ 

Der aktuelle Mindestlohn war erst Ende 2023 blutig erstritten worden. Vier Arbeiter kamen damals bei Polizeieinsätzen ums Leben, es gab mehrere Schwerverletzte. Er beträgt umgerechnet 106 Euro. Gewerkschaften hatten das Doppelte gefordert. Aus gutem Grund, denn der Lohn reicht nicht für den Lebensunterhalt: Miete und Trinkwasser sind in Dhaka besonders teuer, die Inflationsrate auch für Lebensmittel liegt bei über zehn Prozent in ganz Bangladesch. 

Nach neueren Studien sind mehr als zwei Drittel der Textilarbeiter*innen hoch verschuldet, unter anderem über Mikrokredite. Weil der monatliche Mindestlohn nicht ausreicht, um die Lebenshaltungskosten zu begleichen, müssen sich viele am Ende des Monats Geld leihen: bei Verwandten, Freunden oder Kredithaien. Viele nehmen auch sogenannte Mikrokredite auf, etwa bei der Grameen Bank, die der Chef der aktuellen Übergangsregierung, Muhammad Yunus, mitgegründet hat. 

Mikrokredite als Allheilmittel

Landwirtschaft und Textilsektor sind die Branchen mit den meisten Beschäftigten in Bangladesch. Dennoch sind weder Vertreter*innen der Kleinbauern, Landlosen oder Textilarbeiter*innen in der Übergangsregierung unter Yunus vertreten. Er und seine Grameen Bank erhielten 2006 den Friedensnobelpreis für ihr Konzept, mit Hilfe von Mikrokrediten die Armut bekämpfen zu können. 

„Wir verleihen Geld an extrem arme Menschen, damit sie sich ein Einkommen schaffen können. Kleinstkredite bis 100 Dollar, mit Rückzahlung in wöchentlichen Raten“, sagte Yunus bei der Preisverleihung. Was bei der Preisverleihung nicht erwähnt wurde, sind die hohen Zinssätze von 20 Prozent plus Gebühren. Und dass die Geldeintreiber bei Verzug der Ratenzahlung erhebliche Druckmittel anwenden. Zum Teil betragen die Schulden der Arbeiter*innen das Siebenfache ihres monatlichen Mindestlohns.

Seine politische Prägung erhielt Muhammad Yunus in den USA. „In den Vereinigten Staaten sah ich, dass die Marktwirtschaft das Individuum befreit und ihm gestattet, seine persönliche Wahl zu treffen“, schreibt Muhammad Yunus in seiner Autobiografie über seine Studienzeit in den USA Anfang der 1970er Jahre. 

Der Wohlfahrtsstaat in den USA – auch damals schon nur ein Abklatsch dessen, was in Westeuropa Standards war – bezeichnet er darin als „Monster“, weil er angeblich Eigeninitiative verhindere. Wie andere Vertreter*innen der neoliberalen Ideologie stellt der „Bankier der Armen“ damit die einzigen Strukturen in Frage, die den Armen im Kapitalismus Linderung und Hilfe verschaffen. Mikrokredite als Allheilmittel: „Alle staatlichen Wohlfahrtsorganisationen würden nicht mehr gebraucht und könnten abgeschafft werden“, behauptet Yunus in seiner Autobiographie.  

Demonstranten in Dhaka
Protest nach dem Protest: Demonstrierende erinnerten im September an den Massenaufstand im August, der Sheikh Hasina zum Rücktritt zwang. Foto: picture alliance / AP| R. Dhar

Mikrokredite statt öffentliche Daseinsvorsorge und Wohlfahrtsstaat – das passt auch zu den ökonomischen Rahmenbedingungen in Bangladesch. Der Spielraum der Übergangsregierung ist äußerst begrenzt: Schon Sheikh Hasina hatte dem internationalen Schuldendienst an Gläubiger wie die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds (IWF) Priorität eingeräumt. Mit dramatischen Folgen: Bereits vor der Corona-Pandemie wurden 60 Prozent der Staatseinnahmen für den Schuldendienst benötigt. Für Gesundheit und Bildung etwa bleibt da nicht mehr viel übrig. Der IWF hat trotz dieser Situation die Schuldendynamik als „nachhaltig“ bezeichnet

Anu Muhammad macht diese wirtschaftlichen Faktoren gegenüber Qantara für die politische Situation in Bangladesch mitverantwortlich. „Das neoliberale Entwicklungsmodell der Weltbankgruppe, nämlich die Privatisierung öffentlicher Ressourcen und der freie Zufluss schädlicher ausländischer Investitionen“ habe eine „kleine Gruppe von Superreichen geschaffen“, so Muhammad. „Mithilfe von Bankkrediten, undurchsichtigen, sehr teuren Verträgen und der Aneignung von Gemeineigentum plündern sie das Land“.  

Anu Muhammad, einer der unabhängigen Intellektuellen Bangladeschs, bezweifelt, dass die Übergangsregierung die Macht dieser Leute nennenswert einschränken kann. Sheikh Hasina und Muhammad Yunus hätten zwar „einen persönlichen Konflikt“ gehabt, der sei aber nicht politischer Natur gewesen. Wie sie pflege auch Yunus enge Kontakte zur globalen Geschäftswelt. Die neue Übergangsregierung habe bereits deutlich gemacht, dass sie die „alten Verträge mit multinationalen Unternehmen beibehalten und die Abhängigkeit von der Weltbank nicht in Frage stellen“ wird.  

Anu Muhammad gehen die Reformvorschläge der Übergangsregierung nicht weit genug. Zusammen mit dem Committee for Democratic Rights hat er einen Forderungskatalog entwickelt. Unter anderem wird die Offenlegung aller internationalen Handelsverträge gefordert. Natürlich müssten auch die Preise für lebenswichtige Güter gesenkt und „endlich Gewerkschaftsrechte gewährleistet“ werden.  

Bei einem ersten Treffen mit mehr als 50 ausländischen Diplomat*innen und Vertreter*innen von UN-Institutionen Mitte August kündigte Yunus demokratische Wahlen und eine Untersuchung der Verbrechen des Hasina-Regimes an. Man wolle Korruption und Missmanagement bekämpfen. Außerdem rief er die Handels- und Investitionspartner auf, ihr Vertrauen in Bangladesch aufrechtzuerhalten: „Wir werden keinen Versuch dulden, die globale Bekleidungslieferkette, in der wir ein wichtiger Akteur sind, zu stören." 

Am 30. September folgten den Worten entsprechende Taten: Bei den neu aufgeflammten Protesten in Ashulia kam nach einem Polizeieinsatz ein Textilarbeiter ums Leben, fünf weitere wurden mit Schussverletzungen ins Krankenhaus eingeliefert. 

 

© Qantara.de