Pakistans größte Niederlage bleibt tabu
"So viel Herzenswärme - und doch sind wir heute für dich bloß Fremde. Wie viele Begegnungen wird es brauchen, um wieder Genossen zu sein?“ So fängt das oft gesungene melancholische Gedicht des bekannten pakistanischen Poeten Faiz Ahmad Faiz an. 1974 hatte Faiz die Hauptstadt Dhaka zum ersten Mal nach dem Bürgerkrieg besucht. Seine Eindrücke und das Trauma des Krieges, der zur Abspaltung und Unabhängigkeit Bangladeschs geführt hatte, inspirierten ihn zu diesen Zeilen.
Am 16. Dezember 1971 hatte der pakistanische General Abdullah Khan Niazi vor laufenden Kameras die Kapitulation unterschrieben und fast 90.000 pakistanische Soldaten in die indische Kriegsgefangenschaft überführt. Ende 2021 wird Bangladesch an diesem Tag den 50. Jahrestag seiner Unabhängigkeit feiern. Was den Bengalis als die Geburtsstunde ihrer Nation gilt, stellt für Pakistan die größte militärische Niederlage seiner Geschichte dar. Abseits des nationalistischen Narratives beider Staaten und jenseits des Streits um die tatsächliche Anzahl der zivilen Opfer, ist die menschliche Tragödie dieser Epoche wenig aufgearbeitet worden. In Pakistan wird das Thema bis heute tabuisiert.
Bezeichnend dafür ist die erzwungene Absage einer Konferenz der renommierten Lahore University of Management Sciences (LUMS) im März 2021, die einen kritischen Blick auf die Geschehnisse werfen wollte. Nur wenige Tage nach der offiziellen Ankündigung musste die Universität die akademische Veranstaltung auf mysteriösen Druck hin absagen.
Widerstand in Ostpakistan gegen Nationalsprache Urdu
Pakistan entstand nach der Teilung Britisch-Indiens im Jahre 1947 als ein Nationalstaat der indischen Muslime. Provinzen mit einer mehrheitlich muslimischen Bevölkerung wurden zum neuen Staat Pakistan zusammengefasst. Da Ost-Bengalen überwiegend muslimisch war, gehörte es nun zum pakistanischen Staatsgebiet, war jedoch fast 1500 Kilometer vom westlichen Teil des Landes entfernt. Zwischen den beiden Staatsgebieten bestand keine Landverbindung. Zudem war Ost-Bengalen der bevölkerungsreichste Teil des neuen Staates und ethnisch bengalisch geprägt. Vor diesem Hintergrund beschwor die Zentralregierung in Karachi eine Einheit beider Landesteile.
Ein Mittel für die nationale Einheit schien anfangs die Idee einer einheitlichen Nationalsprache, Urdu, zu sein. Womit die überwiegend westpakistanischen Politiker der Zentralregierung aber nicht rechneten, war der starke Widerstand in Ostpakistan gegen ein solches Vorhaben. Die Bengalis befürchteten mit der Idee einer einheitlichen Nationalsprache den Verlust ihrer Muttersprache und Identität. 1952 formierte sich studentischer Protest in Dhaka gegen die unpopuläre Politik. Das rabiate Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die Studenten forderte Tote und Verletzte und führte zu Unruhen in der ganzen Provinz.
Auch wenn einige Jahre später Bengalisch als eine offizielle Nationalsprache anerkannt wurde, hatte die unglückliche Handhabung der Kontroverse bereits den Grundstein für eine Entfremdung Ost-Bengalens von Pakistan gelegt.
Die im Zuge des Streits entstandene neue Partei Awami League gewann 1954 bei den Wahlen in Ost-Bengalen die absolute Mehrheit und stellte nun die neue Provinzregierung. Ihre Forderungen nach mehr Autonomie und paritätischer Teilhabe an den Staatsausgaben führten immer wieder zu starken Spannungen mit der Zentralregierung. Ende 1954 löste Karachi die Provinzregierung in Ost-Bengalen auf und ließ Kader der Awami League wegen Landesverrat inhaftieren.
Ein Komplott Indiens?
Der repressive Umgang folgender Zentralregierungen in den nächsten Jahren verursachte nur noch mehr Unmut in der Bevölkerung Ostpakistans. 1966 übernahm der charismatische Mujibur Rahman (1920-1975) den Parteivorsitz in der Awami League und schlug in einem sogenannten Sechs-Punkte-Plan eine sehr weitreichende Autonomie für Ostpakistan vor. In der neuen Hauptstadt Islamabad sah die Militärregierung in dem Plan den Versuch einer De-facto-Abspaltung der Ostprovinz und einige vermuteten sogar ein indisches Komplott, um Pakistan zu spalten.
Vermutlich nicht ganz zu Unrecht, denn wie der indische Topdiplomat Sashanka S. Banerjee 2020 in einem Beitrag bestätigte, hatte Mujibur Rahman bereits 1962 Neu-Delhi um Unterstützung für eine Unabhängigkeitsbewegung in Ostpakistan gebeten. Nach eigenem Bekunden entwickelte Rahman bereits 1958 die Idee für ein unabhängiges Bangladesch.
Die Parlamentswahlen von 1970 brachten Mujibur Rahmans Partei in Ostpakistan wieder die absolute Mehrheit, so dass sie auch im gesamtpakistanischen Ergebnis als stärkste politische Kraft aus den Wahlen hervorging. Die Militärdiktatur unter General Yahya Khan (1969-1971) zögerte zunächst mit einem Regierungsauftrag an ihn und drang die Pakistan Peoples Party (PPP) von Zulifkar Ali Bhutto, die in Westpakistan gesiegt hatte, mit Rahman über die Bildung einer Einheitsregierung zu verhandeln.
Obwohl nach Bekunden mehrerer Verhandlungsführer die meisten Forderungen der Awami League akzeptiert worden waren, hatten die Kader der Partei sich anscheinend bereits für eine Unabhängigkeit entschieden, sodass die Verhandlungen ergebnislos abgebrochen wurden.
Die Operation Search Light ist der Auftakt zum Bürgerkrieg
Parallel zu den offiziellen Verhandlungen hatten die Generäle im Geheimen Pläne zur gewaltsamen Unterdrückung der bengalischen Opposition geschmiedet. Als die offiziellen Verhandlungen scheiterten, verkündete Mujibur Rahman am 26. März 1971 die Unabhängigkeit Bangladeschs, worauf der Oberbefehlshaber der pakistanischen Truppen in Ostpakistan den unsäglichen Befehl für die Operation Search Light gab, die den Auftakt zum Bürgerkrieg bedeutete.
Was folgte, ist eines der dunkelsten Kapitel der pakistanischen Geschichte. In Ost-Bengalen wurden Hunderttausende Opfer von Folter, Exekutionen, Vergewaltigungen und Vertreibungen. Neben den Soldaten beteiligten sich auch islamistische Milizen aktiv an den Gräueltaten.
In einem dramatischen Appell schrieb der amerikanische Konsul in Dhaka Archer Blood nach Washington: “ Here in Dacca we are mute and horrified witnesses to a reign of terror by the PAK military. Evidence continues to mount that the Martial Law Authorities have a list of Awami League supporters whom they are systematically eliminating by seeking them out in their homes and shooting them down.” (“Hier in Dakka sind wir die stummen und entsetzten Zeugen der Terrorherrschaft der pakistanischen Armee. Es gibt Indizien dafür, dass die militärischen Autoritäten (unter Kriegsrecht) eine Liste mit Awami League-Unterstützern angelegt haben und diese systematisch eliminieren, indem sie sie in ihren Häusern aufsuchen und niederschießen.”)
In weiteren Telegrammen dokumentierten die Diplomaten systematische Massaker und Vertreibungen. Ihre Appelle an die eigene Regierung, der Gewalt Einhalt zu gewähren, stießen in Washington auf taube Ohren. Kissinger rügte die Diplomaten und rief Blood zurück. Für Washington waren die strategischen Beziehungen zum pakistanischen Establishment wichtiger als die zivilen Opfer des Krieges.
Auf der anderen Seite bewaffnete und trainierte Indien Mujibur Rahmans Miliz, die Mukhti Bahini, um Anschläge und Sabotageakte gegen das pakistanische Militär zu führen. In einem aussichtslosen Versuch, Indien von einer weiteren Einmischung in den Bürgerkrieg zu stoppen, flog die pakistanische Luftwaffe Anfang Dezember 1971 einen Überraschungsangriff an der indischen Westgrenze. Islamabads Militärstrategen erhofften so, den Druck an der Ostfront vermindern zu können.
Doch die Eskalation resultierte in einer offiziellen Kriegserklärung und dem Einmarsch indischer Truppen in Ostpakistan. Nur wenige Wochen später unterschrieb der pakistanische General Niazi die Kapitulation seines Landes in Dhaka. In ihrem Siegesrausch gingen nun Mitglieder der Mukhti Bahini-Milizen gegen tatsächliche und vermeintliche Kollaborateure der pakistanischen Armee vor. Racheakte, außergerichtliche Exekutionen und Vertreibungen waren die Folge. Besonders bekam das die Urdu sprechende Minderheit der Biharis zu spüren, die bis heute in Bangladesch stark diskriminiert wird.
Keine Aufarbeitung der Ereignisse in Sicht
Eine Aufarbeitung der Ereignisse im Bürgerkrieg ist in Pakistan weitgehend ausgeblieben. Die Ende 1971 von Staatspräsident Zulifkar Ali Bhutto eingesetzte Hamoodur Rahman Commission legte zwar einen umfangreichen Bericht vor, in dem Kriegsverbrechen dokumentiert und die Verantwortlichen aufgezeigt worden waren, jedoch bleibt der Hauptteil des Berichts - auch nach fast 50 Jahren - noch immer unter Verschluss. Erst im Jahre 2000 gelangten Teile des Berichts an die Presse. In Pakistan wurde kein Verantwortlicher ernsthaft zur Rechenschaft gezogen oder bestraft.
Selbst General Niazi, dem alle Beobachter eine Mitschuld an dem Desaster geben, wurde bis auf eine kurze Inhaftierung und spätere unehrenhafte Entlassung aus dem Militär nie für seine Rolle zur Rechenschaft gezogen. Es ist vielleicht eine Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet der damalige Militärmachthaber Pervez Musharraf im Jahr 2002 am weitesten auf Bangladesch zuging und offiziell der Toten beider Seiten gedachte.
Das Schicksalsjahr 1971 hat wie kein anderes den Lauf der pakistanischen Geschichte verändert und dennoch tut sich das Land schwer mit der Vergangenheitsbewältigung. Aber eine ehrliche Aufarbeitung der Ereignisse wäre zentral, um die Traumata von damals zu heilen.
© Qantara.de 2021
Mohammad Luqman ist Islamwissenschaftler und Südasienexperte mit einem besonderen Forschungsschwerpunkt auf Pakistan.