Islamisch-moralische Führung: ein uneingelöstes Versprechen
Fethullah Gülen, der am 21. Oktober verstarb, war wahrscheinlich die einflussreichste religiöse Persönlichkeit in der Geschichte der Türkischen Republik. Er begann in den 1960er und 70er Jahren mit dem Aufbau einer einflussreichen religiösen Bewegung, die sich Hizmet (Dienst) nennt.
Das Besondere an der Gülen-Bewegung war ihr zivilgesellschaftliches Netzwerk in der Türkei und später auf der ganzen Welt, das Schulen, philanthropische Projekte, Initiativen für den interreligiösen Dialog und Medienplattformen umfasst. Anfang der 2010er Jahre war sie eines der größten transnationalen islamischen Netzwerke mit 2.000 Schulen in mehr als 160 Ländern, ein bis zwei Millionen Anhänger:innen und mehreren Millionen Sympathisant:innen.
Durch eine Allianz mit der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) zu Beginn der 2000er Jahre erlebte die Gülen-Bewegung einen weiteren Aufschwung. Die Zusammenarbeit hielt bis 2013 an, als Gülen-nahe Staatsanwälte gegen den inneren Kreis von Recep Tayyip Erdoğan Ermittlungen wegen Korruption einleiteten. Auch wenn diese Vorwürfe glaubhaft waren, machten sie zugleich den Einfluss der Gülen-Bewegung innerhalb des Staates sichtbar. Sowohl Säkulare als auch andere religiöse Gruppen sowie die breite Öffentlichkeit sahen die Stellung der Bewegung im Staatsapparat zunehmend kritisch.
Erdoğan reagierte mit der Säuberung des Staates von Gülenist:innen, eine Kampagne, die nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 eskalierte. Die Einzelheiten dieser Nacht sind nach wie vor unklar, aber die Regierung stellt die Geschehnisse als versuchte Machtübernahme der Gülenist:innen dar. Erdoğans anschließendes hartes Durchgreifen führte zur Verhaftung von rund 500.000 Menschen und zur Beschlagnahme von Vermögenswerten im Wert von mehr als 15 Milliarden US-Dollar.
Dabei sind die AKP und die Gülen-Bewegung beide eng mit der sunnitischen Orthodoxie verbunden, die in den konservativen Schichten der Türkei vorherrscht. Zwischen ihren Anhängerschaften besteht eine erhebliche Überschneidung: Als das Bündnis zerbrach, fanden sich Familien und enge Freunde oft auf entgegengesetzten Seiten einer sich vertiefenden Kluft wieder. Nahezu jeder AKP-Anhänger hat Verwandte oder Freunde, die beschuldigt werden, mit der Bewegung in Verbindung zu stehen.
Die gemeinsame Geschichte und die persönlichen Verstrickungen haben die Feindseligkeit jedoch nicht gemildert, sondern eher noch verstärkt. Die radikalsten Gülen-Gegner:innen in den Reihen der AKP sind diejenigen, die einst an der Schnittstelle zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung saßen. Ihre Angriffe auf die Bewegung sind wahrscheinlich durch den Wunsch motiviert, sich von ihren früheren Verbindungen zu distanzieren.
Teil des sunnitischen Mainstreams
Trotz ihres zentralen Einflusses auf die türkische Geschichte reproduzieren Studien über die Gülen-Bewegung oft eine vereinfachende Logik von Gut und Böse. Verfechter:innen preisen die Bewegung, während Kritiker:innen sie verteufeln. Die meisten Arbeiten sehen in der Bewegung ein in der Türkei und sogar in der gesamten islamischen Welt einzigartiges Phänomen. Dabei ignorieren sie, wie eng sie in Bezug auf ihre Glaubenssysteme, Praktiken und Strategien mit dem konservativen Mainstream der Türkei verbunden ist.
Teil der Kriminalisierung von Gülens Bewegung durch die AKP und den türkischen Staat ist die Darstellung ihrer Lehren als unislamisch und ketzerisch. 2017 gab die staatliche türkische Religionsbehörde Diyanet einen 140-seitigen Bericht heraus, in dem sie behauptete, Gülens Ansichten widersprächen dem Islam und Hizmet könne nicht als islamische Bewegung angesehen werden.
Gülens Überzeugungen entsprachen jedoch häufig der traditionellen sunnitischen Lehre, wie die ägyptische al-Azhar-Universität, eine der renommiertesten wissenschaftlichen Autoritäten im sunnitischen Islam, 2017 noch einmal bestätigte. Auch die von Gülenist:innen befolgten Rituale und Bräuche unterscheiden sich nicht von denen des sunnitischen Mainstreams.
Gülens Lehren enthielten kleinere Modernisierungen. So vertrat er beispielsweise die Auffassung, dass Apostasie (die Abwendung vom Glauben, Anm. d. Red.) im religiösen Sinne nicht strafbar sei und dass es den Menschen freistehen sollte, dem Islam beizutreten oder sich von ihm zu lösen. In Bezug auf häusliche Gewalt bekräftigte er das Recht der Frauen auf Selbstverteidigung und unterstützte betroffene Frauen in ihrem Recht, eine Scheidung zu beantragen. Beide Positionen entsprechen den gesellschaftlichen Normen der Türkei.
Der kontroverseste Punkt war Gülens Haltung zur Verschleierung. Er erklärte, das Tragen eines Kopftuchs sei eine religiöse Pflicht, argumentierte aber, dass Frauen darauf verzichten könnten, um diskriminierende Maßnahmen zu umgehen. Dies war im türkischen Kontext von Bedeutung, wo verschleierte Frauen vom säkularen Staat systematisch von bestimmten Berufen ausgeschlossen wurden. Bis 2010 war verschleierten Frauen sogar das Universitätsstudium untersagt.
Doch auch wenn seine Lehren wie in dieser Frage vom Kanon abwichen, waren sie keine Neuerungen. Insgesamt war Gülen weniger ein innovativer Theologe als vielmehr ein charismatischer Prediger.
Allerdings unterscheidet sich die Gülen-Bewegung in ihrer geopolitischen Haltung deutlich von den türkischen Konservativen: Gülen war unverhohlen pro-westlich und verärgerte einige andere türkische religiöse Gruppen, indem er zu Themen wie den US-amerikanischen und israelischen Kriegsverbrechen im Nahen Osten schwieg.
Kein Widerspruch: Spiritualität und Bürokratie
Neben ihren philanthropischen Projekten und Bildungsinitiativen platzierte die Bewegung ihre Anhänger strategisch in bürokratischen Funktionen in der Türkei, um ihren Einfluss auszuweiten und ihre politischen Ambitionen zu fördern. Einige Expert:innen erklären den Einfluss Gülens durch ihre Strategie der politischen Allianzen. Dabei ist diese kein Alleinstellungsmerkmal der Bewegung.
Im Gegensatz zu ihren Pendants in vielen mehrheitlich muslimischen Ländern haben religiöse Gruppen in der Türkei gegenüber dem Staat seit jeher eine nicht-konfrontative Haltung eingenommen. Die frühe Etablierung der repräsentativen Demokratie bot religiösen Gruppen die Möglichkeit, ihre Ziele zu verfolgen, ohne die staatliche Autorität in Frage zu stellen. So hat keine der großen türkischen religiösen Gruppen versucht, einen islamischen Staat zu errichten. Stattdessen strebten sie einen allmählichen Wandel an, und zwar durch eine neue Generation von gläubigen Menschen, die dann in Führungsrollen entsprechende Entscheidungen herbeiführen können.
Mit anderen Worten: Türkische religiöse Gruppen unterhalten seit den 1950er Jahren klientelistische Beziehungen zu politischen Parteien und sichern sich im Gegenzug für ihre Unterstützung bei Wahlen staatliche Ressourcen und Schutz. Das Bündnis der Gülen-Bewegung mit der AKP und ihre Strategie des Kaderaufbaus innerhalb der Bürokratie folgten diesem langjährigen Muster.
Das Revolutionäre war also nicht Gülens Vision an sich, sondern die Reichweite der Bewegung und ihre Größe. Allerdings war die Bewegung in ihrer Konsequenz kühn, so brachte sie Anhänger:innen beim Militär unter – ein Schritt, den die meisten anderen religiösen Gruppen aufgrund der strengen säkularen Haltung des Militärs vermieden. Um die säkularistischen Barrieren zu umgehen, wendeten die Gülenist:innen Verschleierungstaktiken an, indem sie beispielsweise ihre Verbindungen zur Bewegung verschwiegen und selbst ihre Religiosität verbargen, wenn sie mit säkularen Institutionen zu tun hatten.
Die Präsenz von Gülen-Anhänger:innen in Militär und Polizei war ein offenes Geheimnis und wurde von der religiösen Öffentlichkeit – anders als von den Säkularist:innen – zunächst nicht als kontrovers empfunden. Im Gegenteil: Die meisten Konservativen sahen darin ein Gegengewicht zur Feindseligkeit des Militärs gegenüber der öffentlichen Sichtbarkeit der Religion.
Hat islamische Politik eine Zukunft?
Als die Gülen-AKP-Allianz Ende der 2000er Jahre sowohl politische als auch bürokratische Macht innehatte, waren sie der Verwirklichung ihres „islamischen Traums“ näher denn je – der Vorstellung, dass eine fromme Regierung gesellschaftliche Probleme lösen könnte. Doch das Experiment hatte katastrophale Folgen.
Die AKP entwickelte sich zu einer korrupten, ultranationalistischen und autoritären Partei, in deren Mittelpunkt der Personenkult um Erdoğan steht, während sich die Gülen-Bewegung aufgrund ihrer aggressiven Taktik und ihrer Bemühungen um die Machtübernahme von der konservativen Öffentlichkeit entfremdete.
Heute gehören die Gülenist:innen angesichts der massiven staatlichen Repressionen und der allgegenwärtigen staatlichen Propaganda zu den am stärksten geschmähten Gruppen der Türkei. Beide Bewegungen, einst Symbole einer neuen Ära, sind heute diskreditiert – auch wenn die AKP weiterhin an der Macht ist. Die religiösen Gruppen der Türkei konnten ihr Versprechen einer moralischen Staatsführung weitgehend nicht einlösen.
Diese Erfahrung macht deutlich, dass religiöse Bewegungen über vereinfachende Ziele hinausdenken müssen, wenn sie sich modernen Herausforderungen stellen wollen. Eine kritische Neubewertung der Vetternwirtschaft zwischen religiösen Gruppen und politischen Akteuren sowie der komplexen Geschichte der staatlich-islamischen Beziehungen in der Türkei ist dringend erforderlich. Vor allem sollte die übermächtige Rolle des Staates in der Politik hinterfragt werden sowie die Tendenz gesellschaftlicher Gruppen, sich vom Staat vereinnahmen zu lassen, um Repressionen zu vermeiden.
Was nun ansteht ist ein ehrliches Überdenken der Beziehung zwischen Staat und Religion sowie mehr Engagement für die weitere Demokratisierung des Staates. Solche Ziele erfordern intellektuelle Konsequenz und Selbstkritik – Eigenschaften, die vielen türkischen religiösen Gruppen derzeit fehlen.
Bis jetzt wählt die religiöse Öffentlichkeit in der Türkei einen bequemen Weg: Sie schreibt die Gülen-Bewegung und ihre Repressionserfahrung als Verirrung ab und spielt ihre tiefe Verwurzelung im türkischen Mainstream-Islam herunter. Viele Gülen-Anhänger:innen wiederum behaupten, sie müssten nur deshalb leiden, weil sie sich der Tyrannei von Erdoğan widersetzen. Die Zukunft der religiösen Bewegungen in der Türkei wird am Ende von ihrer Bereitschaft abhängen, einen gründlichen Blick in den Spiegel zu werfen.
© Qantara.de