Radio multikulti – Ein Programm für die Welt
Rap aus dem Senegal, Bhangra-Klänge aus dem pakistanischen Viertel von Birmingham, Klezmer, polnischer Jazz und russische Country-Musik – Radio multikult" hört sich manchmal an wie eine Reise um die Welt in einer Stunde. Der Sender bedient 18 Sprachen – von albanisch bis vietnamesisch –, beschäftigt Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus über 30 Nationen und präsentiert zwischen 22.00 Uhr und 6.00 DJs aus Sao Paulo oder London, die ihre Art von Weltmusik auflegen – ein Programm für die Welt.
Vor acht Jahren ging der SFB (Sender Freies Berlin) mit dem Programm auf Sendung. 1994 – da waren die ausländerfeindlichen Anschläge in Solingen, Mölln und Rostock noch frisch in Erinnerung. Die Medien wollten etwas gegen die latente Pogromstimmung tun. Redaktionsleiter Kultur Friedrich Voß und Hörfunkdirektor Jens Wendland stießen auf offene Türen, als sie mit dem Vorschlag, eine eigene Welle für die Ausländer in Berlin ins Leben zu rufen, an den Rundfunkrat herantraten.
Forum für Migranten
Friedrich Voß, heute der "Wellenchef", erinnert sich: "Wir bekamen auf dem engen Berliner Radiomarkt schnell eine Frequenz und erhielten Fördermittel von der Bundesregierung." Für ihn war die Gründung eines solchen Senders längst überfällig. "Der gehört einfach zu einer Stadt wie Berlin, in der fast eine halbe Million Menschen aus 182 Nationen leben. Schließlich zahlen die meisten unter ihnen Rundfunkgebühren."
Die neue Welle sollte andere Aufgaben erfüllen als das gute alte "Gastarbeiterradio" mit Heimatklängen und ein paar Neuigkeiten aus der Ferne. Radio multikulti verstand sich von Anfang an erstens als ein Forum für Migranten, das ihre kulturelle Identität achtet und ihre Muttersprachen pflegt. Zweitens wird dem oft ideologisch gefärbten Informationsangebot aus den Heimatländern eine ausgewogene Berichterstattung in der deutschen öffentlich-rechtlichen Tradition entgegengesetzt. Und drittens verfolgt Radio multikulti seinen ganz eigenen Weg der Integration.
Tagsüber in Deutsch
Friedrich Voß: "Für uns ist die jeweilige Muttersprache die Einstiegsdroge ins deutsche Programm. Wir senden tagsüber in Deutsch und von 17 bis 22 Uhr in verschiedenen ausländischen Sprachen." Es sei einfach falsch, dass Türken nur türkisch, Russen nur russisch hören wollen. Sie möchten über die Welt, in der sie leben, informiert sein – und das in Sendungen, die für sie gemacht sind. "Wir beschäftigen auf der deutschsprachigen Schiene Moderatorinnen und Moderatoren mit ausländischen Wurzeln. Das bringt immer eine andere Sicht auf die Dinge, als wenn das nur Deutsche machen würden." In den acht Jahren hat der SFB Dutzende von Einwanderern zu Radiojournalisten ausgebildet.
Untersuchungen bestätigen Voß: Radio multikulti wird zu 70 Prozent von Ausländern, zu 30 Prozent von Deutschen gehört. Unter den 160 000 Türken in Berlin – der größten Minderheit – hört jeder zehnte den Sender (obwohl es eine eigene türkische Welle gibt: Radio metropol). Leider seien sie terrestrisch über UKW 106,8 nur im Großraum Berlin zu empfangen. "Wir wünschen uns eine stärkere Frequenz", sagt Friedrich Voß.
Verschiedene Nationen gemeinsam vor dem Mikrofon
Der Sender hat ein waches Auge auf das, was unter den Migranten in Berlin gerade vor sich geht. Zur Zeit der Wiedervereinigung stießen die vietnamesischen Migranten aus Ost und West aufeinander. Die im Westen waren vor dem Kommunismus geflohene "Boat people", die im Osten zur Ausbildung ins Bruderland DDR gesandte Kader. Radio multikulti begann in täglichen Sendungen auf vietnamesisch zwischen den verfeindeten Gruppen zu vermitteln. Als während des Bürgerkriegs im ehemaligen Jugoslawien eine Welle von Kosovo-Flüchtlingen nach Berlin schwappte, nahm die Redaktion Ratgebersendungen auf albanisch ins Programm. Bei Radio multikulti standen Türken und Kurden, Israelis und Palästinenser gemeinsam vor dem Mikrophon. Als das World Trade Center in New York einstürzte, schaltete der Sender live zu jeder einzelnen Volksgruppe von Berlin nach New York: Griechen, Italiener, Türken, Mexikaner, Portugiesen – alle wollten wissen, wie es ihren Landsleuten geht.
Radio multikulti finanziert sich über Gebühren, über staatliche Zuschüsse, über den Verkauf von Programmteilen an andere Sender (ein Zuwachsgeschäft) und zum kleineren Teil aus Sponsormitteln. Er beschäftigt heute rund 160 freie und 29 feste Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und unterhält Deutschlands größtes Archiv an Weltmusik. Viele, die bei Radio multikulti ausgebildet wurden, sind mittlerweile in die anderen Wellen beim SFB gewechselt – und auch das hat den Programmen gut getan. Eine enge Kooperation besteht mit dem WDR, der 1998 mit "Funkhaus Europa" 1998 eine ähnliche Welle auf die Beine gestellt hat. Einen neuen Schub brachte der Live Stream im Internet: über www.multikulti.de ist der Sender weltweit auf Empfang. Und dass wirklich auch auf der anderen Seite der Welt zugehört wird, zeigt das jüngste Glückwunschtelegramm zum achten Geburtstag. Es kam aus Tokio.
Volker Thomas
© 2003, Goethe Institut