20 Jahre nach dem Anschlag in der Keupstraße

Die Keupstraße in Köln-Mülheim nach dem Terroranschlag im Juni 2004
Die Keupstraße in Köln-Mülheim nach dem Terroranschlag im Juni 2004 (Foto: picture-alliance/dpa/F. Gambarini)

Vor 20 Jahren explodierte in der Kölner Keupstraße eine Nagelbombe. Danach gerieten die Opfer unter Verdacht, während die Ermittler einem Verdacht gegen Neonazis nicht nachgingen - und die Opfer so zusätzlich traumatisierten.

Von Burak Ünveren

Köln, am 9. Juni 2004 um kurz vor 16 Uhr. Auf der geschäftigen Keupstraße im Stadtteil Mülheim gibt es einen gewaltigen Knall. Vor dem Friseursalon eines türkischstämmigen Kölners ist eine Nagelbombe explodiert. Scheiben sind zersplittert, Autos beschädigt, der Friseursalon ist verwüstet, es brennt. 22 Menschen sind verletzt, vier von ihnen schwer. Keiner von ihnen wird sterben. Doch viele der Betroffenen - auch körperlich unversehrte - werden traumatisiert bleiben, für lange Zeit. Grund dafür ist auch die Arbeit der Ermittlungsbehörden.

Ali Demir war damals einer der ersten Zeugen, die bei der Polizei ausgesagt haben. "Als die Bombe detonierte, saß ich alleine in meinem Büro in der Keupstraße", erzählt er der Deutschen Welle. "Als das Glas zersplitterte, warf ich mich auf den Boden. Ich dachte, es wäre nur Glas. Draußen schrien Menschen. Die Explosion fand statt, während Kleinkinder von der Kita abgeholt wurden. Das Ziel war, die Kinder und ihre Eltern zu töten."

Jährlich gedenkt das Viertel um die Keupstraße dem Nagelbomenanschlag
Jährlich gedenkt das Viertel um die Keupstraße den Opfern des Nagelbombenanschlags. (Foto: picture-alliance/dpa/R. Pfeil)

Generalverdacht gegen Migranten

Einen Tag nach der Explosion sagte der damalige deutsche Innenminister Otto Schily öffentlich, die Erkenntnisse der Sicherheitsbehörden deuteten nicht auf einen terroristischen Hintergrund hin, sondern auf "ein kriminelles Milieu". Für den zuständigen Bundesminister ging es also um einen Machtkampf unter Kriminellen. In den Vernehmungen werden die Zeugen unter anderem gefragt, ob sie Schulden hätten, versichert seien und ob es Rivalitäten in der Keupstraße gegeben habe. "Ich kannte alle Ladenbesitzer in der Straße. Es gab keine Rivalitäten", sagt Demir.

Schilys Satz habe damals alle überrascht, erinnert sich Demir. Die ganze Straße sei kriminalisiert worden, meint er, und das Statement des Ministers habe die Situation nur verschlimmert: "Die Polizei unternahm Razzien in der Straße und beschuldigte die Ladenbesitzer."

Der Generalverdacht richtete sich gegen Türken, Kurden und Deutsche, die aus der Türkei stammen. Denn ihre Läden - Restaurants, Juwelier- und Schuhgeschäfte, Friseursalons und andere - sind es, die die etwa 900 Meter lange Keupstraße damals wie heute prägen.

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Hat die Politik daraus gelernt?

Ein Verdachtsmoment gegen die rechtsradikale Szene wird sehr schnell verworfen. Erst im November 2011 wird der Nagelbombenanschlag der rechtsterroristischen Gruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) zugeordnet. Schily gibt einen "schwerwiegenden Irrtum" zu.

Kemal Bozay ist Professor für Sozialwissenschaften an der Internationalen Hochschule Köln und Mitglied des Zentrums für Radikalisierungsforschung und Prävention an der Internationalen Hochschule Erfurt. Er wirft der Politik Gleichgültigkeit vor: "Auch wenn die Anschläge des NSU zwischen 1998 und 2011 in der deutschen Politik und Gesellschaft ursprünglich für viele Diskussionen sorgten, führten diese in der Politik nicht zu großen Änderungen", sagt Bozay.

Obwohl bereits 2011 klar wurde, dass der NSU hinter dem Anschlag steckt, bleiben bis heute viele Fragen unbeantwortet. Auch das Verspechen der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel an die Familienangehörigen, der NSU-Komplex würde vollständig aufgeklärt, sei nicht eingehalten worden: "Dafür wurden bisher keine bedeutsamen Schritte genommen", beklagt sich Bozay.

Auch die Präsidentin der Interessengemeinschaft Keupstraße, Meral Şahin, ist resigniert: "Es hat sich nicht viel geändert. Einige Politiker kamen, posierten für Fotos und gingen wieder. Wir sind wieder einsam, aber zumindest keine Verdächtigen mehr."

Meral Şahin, Präsidentin der Interessensgemeinschaft Keupstraße, in ihrem Geschäft für Dekorationsartikel
"Es hat sich nicht viel geändert. Einige Politiker kamen, posierten für Fotos und gingen wieder. Wir sind wieder einsam, aber zumindest keine Verdächtigen mehr", sagt Meral Şahin, Präsidentin der Interessensgemeinschaft Keupstraße, in ihrem Geschäft für Dekorationsartikel. (Foto: privat)

Immer noch im Gedächtnis

Den Kölner Stadtteil Mülheim wählte die NSU-Gruppe nicht zufällig aus. Etwa jeder dritte Einwohner hat hier eine Migrationsgeschichte. Und die Keupstraße ist einer der zentralen Punkte des Lebens von Türkeistämmigen aus ganz Köln.

In der Kunst wurde das Ereignis mehrmals thematisiert. Der deutschtürkische Rapper Eko Fresh komponierte 2014 ein Lied über den Anschlag mit dem Titel "Es brennt". Auch der Film "Aus dem Nichts" des renommierten Regisseurs Fatih Akin wurde von dem Anschlag inspiriert. 2018 wurde er bei den Golden Globe Awards und den Critics’ Choice Movie Awards als bester fremdsprachiger Film ausgezeichnet.

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Gespaltene Gesellschaft

Seit zehn Jahren wird jedes Jahr des Ereignisses gedacht - um die Trauer in Erinnerung zu bewahren. Mit dem Kulturfest "Zusammenstehen - Birlikte" möchte man in festlicher Atmosphäre ein Zeichen gegen Hass setzen. "Es geht um einen Terrorangriff. Wir feiern natürlich nicht diesen Angriff, aber wir versuchen, eine festliche Atmosphäre zu schaffen. Damit kommen Menschen zu uns und lernen unsere Straße kennen", erklärt Meral Şahin.

Soziologe Bozay sieht einen gewissen Bewusstseinswandel in Deutschland seit den NSU-Morden: "Man kann heute sagen, dass es in der deutschen Gesellschaft heute ein Bewusstsein über den NSU und den Rassismus gibt. Nach den Anschlägen und Morden des NSU entstand in Deutschland eine Sensibilisierung gegenüber Rechtsextremismus und Rassismus. Im Vergleich zur Vergangenheit redet man heute mehr über die Gefahr, die von Rassismus und rechtsextremistischer Gewalt ausgeht."

Gleichzeitig weist er darauf hin, dass sich Rassisten weiterhin treffen und Remigrationspläne schmieden können oder, dass auf einer touristischen Insel wohlhabende junge Deutsche voller Enthusiasmus "Ausländer raus" singen. "Das sind klare Beweise dafür, dass die rassistischen Tendenzen gleichzeitig immer stärker werden", meint Bozay. "Dies führt zur mehr Spaltung und Vertrauensverlust in der Gesellschaft. Die migrantischen Communitys werden immer ängstlicher."

Burak Ünveren &Tuncay Yıldırım

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