"Deutschland erleidet einen Reputationsverlust wie die USA im Irakkrieg"

Professor Kai Hafez von der Universität Erfurt
"Wo findet das Gespräch statt, das wir über die Zukunft des Nahost-Konflikts und die Beziehungen Deutschlands zur Konfliktregion führen müssen? Politik und Medien erfüllen ihre Vorbildfunktion nicht und auch aus der Wissenschaft kommt zu wenig", sagt Professor Kai Hafez von der Universität Erfurt. (Foto: Universität Erfurt)

Medienwissenschaftler Kai Hafez über die deutsche Berichterstattung zum Nahost-Krieg, tradierte Narrative und den Zusammenhang mit antiislamischen Ressentiments in der Gesellschaft im Gespräch mit Qantara.de

Interview von Claudia Mende

Herr Hafez, wenn Sie die Berichterstattung über das Massaker der Hamas und Israels Krieg in Gaza hierzulande mit internationalen Medienberichten vergleichen, sehen Sie da Unterschiede?

Kai Hafez: Jedes Land hat seine eigene Charakteristik, seine eigene Diskurskultur, aber generell ist mein Eindruck, dass in den Ländern des globalen Südens - und das betrifft nicht nur die arabischen Länder, sondern auch Lateinamerika und Afrika - eine wesentlich stärkere Berücksichtigung palästinensischer Anliegen im Gesamtkonflikt sichtbar wird. 

Palästinensische Ziele wie die angestrebte Zwei-Staaten-Lösung und der gesamte Komplex des israelischen Kolonialismus werden stärker fokussiert. Außerdem wird das Thema Antisemitismus weltweit nicht so hoch gehandelt wie in Deutschland. 

Wir neigen dazu, diesen Konflikt sehr stark aus der Perspektive unserer eigenen Vergangenheit zu sehen und quasi reflexhaft in jeder propalästinensischen Haltung Antisemitismus zu vermuten. Manchmal ist das berechtigt, häufig ist es aber auch überzogen, und die Definition von Antisemitismus unklar. Es geht bei der palästinensischen Agenda um territoriale Ansprüche, rassistischer Hass ist da eher von untergeordneter Bedeutung.

Demonstrierende fordern in Berlin eine Waffenruhe im Gazastreifen
"Wir neigen dazu, diesen Konflikt sehr stark aus der Perspektive unserer eigenen Vergangenheit zu sehen und quasi reflexhaft in jeder propalästinensischen Haltung Antisemitismus zu vermuten. ... Es geht bei der palästinensischen Agenda um territoriale Ansprüche, rassistischer Hass ist da eher von untergeordneter Bedeutung", sagt Kai Hafez. (Foto: Jens Thurau/DW)

Es muss verschiedene Meinungen geben

Hier wird häufig eingewendet, Deutschland habe eben eine historische Verantwortung gegenüber Israel. 

Hafez: Es kann aber nicht sein, dass verlangt wird, wir müssten in der Berichterstattung mit einer Stimme sprechen. Wo bleibt da das Diktum freier Medien, hier und in einer globalen Öffentlichkeit, die verschiedene Meinungen anerkennen muss? 

Die Absolutsetzung einer unkonditionierten deutschen Verpflichtung gegenüber Israel ist eine legitime, aber eben nicht die einzige Position. 

Dagegen kann man Haltungen formulieren, die Israel darauf hinweisen, dass Formen von Staatsterrorismus genauso wenig legitim sind wie Untergrundterrorismus der Hamas und dass eine Kriegsführung auf Kosten von Zivilisten, wie wir sie im Moment sehen, nicht zulässig ist. 

Außerdem war die Haltung westdeutscher Staaten und des ostdeutschen DDR-Vorgängerstaates nicht immer so einseitig auf der Seite Israels verortet. 

Welche Phasen hat es denn gegeben?

Hafez: Nach einer mehr ignoranten Periode nach 1945 hat sich die BRD in den 1960er Jahren in ein sehr enges Bündnis mit Israel begeben, inklusive Waffenlieferungen. In den 1970er und 80er Jahren haben sozialdemokratische Regierungen arabische Interessen größer geschrieben bis hin zur Tatsache – ich war damals direkt in diese Prozesse involviert -, dass die Bundesregierung der größte Finanzierer des Oslo-Friedensprozesses auf palästinensischer Seite gewesen ist. Das vergessen viele. 

Die Debatte öffnet sich erst langsam

Deutschland war keineswegs immer so einseitig in seinen Unterstützungsleistungen und ist es auch heute nicht, wenn wir auf die Finanzierungsbilanz schauen. Von daher ist es eine mehrfache Verkürzung, wenn man heute glaubt, in einer solchen Krise einseitig auf der Seite Israels stehen zu wollen. 

Diese Festlegung gibt der medialen Diskussion keinerlei Raum mehr und lässt auch keine palästinensischen Einwürfe mehr zu. Eine transformationsorientierte Außenpolitik kann so sicher nicht entstehen. Deutschland wird endgültig zum Beobachter und nimmt sich jede Möglichkeit, als Akteur tätig zu werden. Das halte ich für falsch, denn die Hauptaufgabe Deutschlands sollte im Moment darin bestehen, einen Dialog zwischen israelischen und palästinensischen Kräften zu fördern, der in der Region selbst derzeit nicht möglich ist. Ich fürchte aber, wir schaffen das nicht, und das ist ein Armutszeugnis. 

Zwar gibt es zunehmend am Rande des Diskurses auch kritische Stimmen gegenüber Israel. Es ist typisch für solche Konflikte, dass in den heißen Phasen zunächst eine tabuisierte Kritiklosigkeit vorherrscht und sich die Debatte erst im Laufe des Konflikts langsam öffnet. 

Beide Seiten neigen zur Desinformation

Dieses Muster sehen wir auch bei anderen Konflikten. Wie könnten die Medien denn dieser Falle der Kritiklosigkeit am Beginn eines Krieges entgehen?

Hafez: Nach dem Paradigma des Friedensjournalismus ist es die Hauptaufgabe des Journalismus, legitimen Positionen in einem Konflikt Raum und Stimme zu geben. Das inkludiert nicht alle. Ich würde Rechtsextreme in der israelischen Regierung ausschließen, genauso wie die Hamas. Sie hat ihre Sprechfähigkeit verloren. Alle anderen Akteure aber, ob in Israel, Palästina oder in Deutschland, die das Existenzrecht des anderen grundsätzlich anerkennen, müssen Gehör finden.

Also, wir müssen die Repräsentanz von Stimmen erhöhen, den Dialog fördern und darauf achten, woher unsere Quellen, die Grundlagen unserer Information, stammen. Da läuft derzeit in den Medien extrem viel falsch. 

Bitte nennen Sie ein Beispiel.

Hafez: Ich war vor kurzem in einer Debatte mit dem Israelkorrespondenten des Deutschlandfunk. Er fragte mich, ob man staatlichen israelischen Informationen zum Konflikt genauso kritisch gegenüberstehen müsse wie Informationen der Hamas. Die Frage hat mich verwundert. Selbstverständlich müssen wir das! Wir wissen, dass die israelische Regierung ebenso zur Desinformation neigt wie die Hamas. 

Bis heute ist beispielsweise unklar, ob es unter dem Shifa-Krankenhaus in Gaza wirklich eine Kommandozentrale der Hamas gab, wie Israel behauptet hat. Es gibt viele ungeklärte Fragen, trotzdem werden israelische Positionen mit der Kennung, "die israelische Regierung sagt", permanent in den Nachrichtenfluss eingespeist. 

Das ist ein zweiter großer Fehler. Wir müssen hier unsere Grundaufgaben erledigen und die Fakten klären. Außerdem sollte man auf der emotionalen Ebene deeskalieren. Wir sind viel zu sehr dabei, diesen Konflikt zu hypermoralisieren. Stichwort Antisemitismus. 

Ich glaube, es steht uns in Deutschland nicht zu, die Schuld für den Antisemitismus den Palästinensern aufzubürden. Natürlich gibt es dort Antisemitismus, genauso wie in Deutschland und weltweit. Auch auf israelischer Seite existieren Antiarabismus und Islamfeindlichkeit: Einstellungen, über die wir eigentlich nie reden, die aber in der derzeitigen israelischen Regierung und Gesellschaft weit verbreitet sind. Der Friedensjournalismus verlangt von den Medien, dass sie sich für ein Friedensklima einsetzen und dies bedeutet zuvorderst, dass man emotional abrüsten sollte. 

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Die Debatte nicht tabuisieren

Antisemitismus ist inakzeptabel und wir müssen als Gesellschaft gegen ihn vorgehen. Doch momentan hat man den Eindruck, der Begriff wird derart inflationär verwendet, dass er auch dazu dient, kritische Stimmen zu unterbinden. Lässt sich das wieder einfangen?

Hafez: Die Neigung zu einer Antisemitismusdebatte, wenn wir eigentlich eine Konfliktdebatte führen müssten, ist in Deutschland alt. Es gab sie schon in den 1980er Jahren, als Israel 1982 Beirut bombardiert hat. Damals führte zum Beispiel die linke taz eine Antisemitismusdebatte. Wir kommen seit Jahrzehnten nicht aus diesem Reflex heraus und müssen uns über die Definition von Antisemitismus Gedanken machen.

Im engeren Sinne bedeutet Antisemitismus rassistische, negative kollektive Zuschreibungen an eine religiöse oder ethnische Gruppe. Alles andere, Kritik an Israel und am Zionismus, ist im engeren Sinne kein Antisemitismus. 

Wir können uns darüber unterhalten, ob ein Israelbild, das sich nur auf negative Facetten konzentriert, antisemitisch wird. Aber im Rahmen eines Konflikts ist es notwendig, Kritik an einer Regierung zu üben. 

Diese zweite Ebene des Antisemitismus, das Bedienen alter Stereotype über die Einseitigkeit einer kritischen Themenagenda, kann in einer Konfliktdebatte nicht zum Tragen kommen. Israel für seine Kolonial- und Militärpolitik zu kritisieren oder sich für einen Waffenstillstand einzusetzen, hat für mich daher nichts mit Antisemitismus zu tun. 

Wir können darüber sprechen, welche Positionen vollständig und ausgewogen sind. Aber eine solche Debatte sollte grundsätzlich nicht tabuisiert werden. 

Angehörige der Geiseln am Tel-Hashomer-Hospital
Erleichterung in Israel über die Befreiung von vier Geiseln aus den Händen der Hamas. Auf dem Bild Angehörige der Geiseln am Tel-Hashomer-Hospital (Foto: Ilia Yefimovich/dpa/picture alliance)

Zustimmung für konstruktive Politik

In unserer öffentlichen Debatte sehe ich eine Tendenz, propalästinensischen Stimmen generell eine grundsätzliche Antipathie gegenüber Israelis und Juden zu unterstellen. Das ist aber nachweislich falsch. In den 1990er Jahren etwa, als der Osloer Friedensprozess begann, waren zwei Drittel der Palästinenser für eine Zwei-Staaten-Lösung. 

Ein Großteil der Menschen – übrigens auch in Israel – war froh, dass der Konflikt einer Lösung zugeführt werden sollte. Wenn Politik konstruktiv wird, gibt es eine mehrheitliche Zustimmung auf beiden Seiten. Es ist also nicht so, dass hier zwei Völker auf Gedeih und Verderb die gegenseitige Vernichtung betreiben.   

Auch Israel verfolgt für mich kein genozidales Programm. Viel hilfreicher ist der Begriff des Staatsterrorismus, des Überschreitens legitimer staatlicher Grenzen, wenn im Krieg mehr Zivilisten als Soldaten getötet werden. Wir haben einen asymmetrischen Konflikt zwischen einer terroristischen Organisation auf der einen und einem Staat auf der anderen Seite, der ebenfalls Grenzen überschreitet und immer wieder mit staatsterroristischen Mitteln agiert. 

Begriffe wie Antisemitismus und Genozid helfen bei der Konfliktanalyse kaum weiter. Ich verstehe nicht, warum sie in Deutschland so großgeschrieben werden. Das wirkt auf mich wie eine Weigerung, den Konflikt wirklich zu verstehen.

Die humanitäre Lage in Rafah ist trotz internationaler Hilfslieferungen desaströs
Die humanitäre Lage in der Stadt Rafah im Gazastreifen ist trotz internationaler Hilfslieferungen desaströs. Die mediale Empathie mit den Opfern hält sich in Grenzen. Das habe auch mit den anti-arabischen und anti-muslimischen Ressentiments in der deutschen Gesellschaft zu tun, meint Kai Hafez. (Foto: Mohammed Salem/REUTERS)

Ressentiments verhindern Empathie

In der Berichterstattung finden wir eine seltsame Kälte. In den ersten Monaten nach dem 7. Oktober schrieben liberale Leitmedien, Israel habe alles Recht, sich militärisch zu wehren; wenn dabei Zivilisten ums Leben kommen, dann wäre das hinzunehmen. Bis heute ist die Empörung über die vielen toten Frauen und Kinder überschaubar. War das schon bei früheren Konflikten so?

Hafez: Palästinenser sind nie in gleicher Weise in die Empathie der Mehrheit der deutschen Medien mit einbezogen worden. Ein Grund ist sicher selbst konstruiert: Wir sehen das palästinensische Leiden nicht in gleicher Weise, wie wir das israelisch-jüdische Leiden vorgeführt bekommen. Es gibt bei uns zu wenige Bilder von den Opfern, während in den internationalen Medien etwa tote und verletzte Kinder auf den ersten Seiten der Presseorgane gezeigt werden und in den Abendnachrichten vorkommen. In unserer heutigen Gesellschaft mit ihrem starken Fokus auf Visualisierung halte ich es für wichtig, dass Menschen zu sehen bekommen, was im Gazastreifen passiert.

Außerdem wird die arabische Bevölkerung bei uns tendenziell dehumanisiert. Das hat mit den islam-und araberfeindlichen Tendenzen zu tun. Studien zufolge hat ein Großteil der deutschen Bevölkerung erhebliche Probleme mit orientalischer und islamischer Kultur. Es gibt enorme Ängste, etwa die Angst, der Islam wäre eine gewaltsame Ideologie, da kämen aggressive Menschen, die patriarchalisch sind und mit Kalaschnikows um sich schießen. Das sind weitverbreitete Assoziationen von vielen Menschen. Wie soll man Empathie mit Menschen entwickeln, denen gegenüber gleichzeitig so große Ressentiments bestehen? 

Heißt das, der ganze Ballast an islamfeindlichen und anti-arabischen Ressentiments wird hier auf die Spitze getrieben?

Hafez: Es ist nicht das einzige Feld, auf dem das passiert. Das geschieht auch im Bereich Rechtsradikalismus und Rechtsextremismus. Das Ausmaß des nutzbaren Rassismus in der deutschen Gesellschaft wird noch nicht klar genug erkannt. 80 Prozent der Deutschen bekennen sich gegen Rassismus, gleichzeitig sehen 60 Prozent dieser vorgeblichen Antirassisten den Islam als gefährlichste Religion der Welt. Im Grunde pflegen also viele Menschen ihren "Salonrassismus" unter anderen Vorzeichen weiter.  

Ja, hier fällt uns ein kulturhistorisch angestauter Ballast auf die Füße. Hier müssen wir klarer werden, auch was Rechtsextremismus betrifft. Es wird zu wenig erkannt, dass die AfD das Feindbild Islam zentral bedient, auch in ihrer Programmatik. Als Mitglied des Expertengremiums für das Innenministerium habe ich mich damit beschäftigt. In der AfD-Programmatik kommt eine grundsätzlich-fundamentale Islamfeindlichkeit zum Ausdruck. Das Innenministerium hat übrigens in keiner Weise die vielen Handlungsempfehlungen des Berichts zur Bekämpfung von Islamfeindlichkeit umgesetzt.

Das Gespräch darüber wird grundsätzlich verweigert. Man hat nach dem Attentat von Hanau und nach der Black Lives Matter-Bewegung ein Gutachten angefordert, will aber von dessen Konsequenzen nichts wissen und scheut die Ergebnisse. Man kann das durchaus als strukturellen Rassismus in der deutschen Politik bezeichnen. Dieser wird weitergereicht an Medien und Öffentlichkeit. Aus der Politik kommen keine Impulse, weder beim Thema Islamfeindlichkeit noch bei einer ausgewogeneren Haltung zu Gaza, und der mediale Raum ist gewissermaßen ein Echo dieser Nicht-Haltung.

Zerstörung im Flüchtlingslager Nuseirat
"Wir sehen das palästinensische Leiden nicht in gleicher Weise, wie wir das israelisch-jüdische Leiden vorgeführt bekommen", sagt Kai Hafez. "Es gibt bei uns zu wenige Bilder von den Opfern, während in den internationalen Medien etwa tote und verletzte Kinder auf den ersten Seiten der Presseorgane gezeigt werden und in den Abendnachrichten vorkommen." (Foto: Jehad Alshrafi/AP Photo/picture alliance)

Medien erfüllen ihre Vorbildfunktion nicht

Was brauchen wir jetzt in der Debatte?

Hafez: Wir brauchen jetzt eine genauere Sprache und differenziertere Kategorien, damit wir wegkommen von dieser Polarität von "Terror versus Genozid". Das kann nur mit einer gesunden Intellektualität gelingen, aber diese ist mir in Deutschland momentan schon viel zu gebremst. 

Wo findet das Gespräch statt, das wir über die Zukunft des Nahost-Konflikts und die Beziehungen Deutschlands zur Konfliktregion führen müssen? Politik und Medien erfüllen ihre Vorbildfunktion nicht und auch aus der Wissenschaft kommt zu wenig. 

Ich höre von Kollegen, dass Autoren wieder von Buchprojekten über Edward Said abspringen, weil ihnen das Thema zu heiß geworden ist. Das finde ich skandalös. Veranstaltungen werden abgesagt, Dialoge werden nicht mehr geführt aus Angst vor dem Kontakt zu falschen Akteuren. 

Die Absage der Universität Köln an Nancy Fraser ist eine Riesenkatastrophe, genauso wie andere Fälle, bei denen renommierte internationale Intellektuelle aus dem deutschen Diskursraum verbannt werden, um ja keine Fehler zu machen.

Ich verstehe auch Uni-Präsidenten und Politiker nicht, die in solche Prozesse eingreifen, wie in Köln oder Berlin. Solche Eingriffe in die Freiheit der Wissenschaft darf es in Deutschland nicht geben.

Nach dem israelischen Angriff auf Rafah versuchen Palästinenser mehrere Brandherde zu löschen.
Nach einem israelischen Angriff auf die Stadt Rafah im Gazastreifen versuchen Palästinenser, die Flammen zu löschen. (Foto: Mohammed Salem/REUTERS)

Tradierte Narrative versus rationaler Zugang

Wie beurteilen Sie das mediale "framing" des Konflikts?

Hafez: Wir haben es mit einem festverankerten David-Goliath-Motiv zu tun. Dabei ist Israel auf ewig der David, auch wenn es den realen Kräfteverhältnissen nach heute eher der Goliath ist. Das scheint aber nicht in unsere Köpfe zu passen. 

Hier blockieren tradierte Narrative unseren rationalen Zugang zum Konflikt. Es kann nicht das Ergebnis einer Konfliktanalyse sein, dass Israel allein das Opfer im Nahost-Konflikt ist. Wenn wir beobachten, was seit Jahrzehnten in Israel und den palästinensischen Gebieten passiert, ist es genauso Täter wie Opfer, vielleicht sogar mehr Täter.

Begonnen hat diese Entwicklung mit der Ermordung von Yitzhak Rabin 1995 durch einen jüdischen Extremisten. Der Mord bedeutete das Ende des Oslo-Prozesses. Auf die zweite Intifada der Palästinenser folgte der Zerfall der israelischen Friedenbewegung. Heute wird in Israel nicht für Palästinenser protestiert, sondern für eigene Belange. Das Handeln israelischer Regierungen hat in vielfältiger Weise Existenzen zerstört und Palästinenser aus Jerusalem und von Siedlungsgebieten verdrängt. Versprechen bezüglich der Westbank wurden nicht eingehalten und der Gazastreifen dauerhaft militärisch abgeriegelt. 

Auch auf der anderen Seite sind Fehler gemacht worden. Die Hamas hat sich zu einer autoritären Organisation ohne demokratische Legitimation entwickelt. Ich sehe hier eine Symmetrie von Konfliktproblematiken und eben nicht David gegen Goliath. Diese Umwidmung der Narrative müssen wir verstehen. Israel ist die einzige Atommacht im Vorderen Orient und mit Sicherheit technisch und militärisch überlegen, nicht unangreifbar, aber so überlegen, dass wir hier einen neo-kolonialen Komplex beklagen müssen. 

"Deutschlands Ansehen geht massiv den Bach runter"

Die politische Rechte in Israel macht keinen Hehl daraus, dass das gesamte Westjordanland für sie Judäa und Samaria ist und sie dieses Gebiet nicht wieder hergeben will. Lösungsszenarien werden nicht umgesetzt.

Wir plagen uns mit vielen traditionellen Motiven und Mythen herum, häufig unbewusst, und müssten unsere Diskurse überprüfen und uns um mehr Ausgewogenheit bemühen. Die Erinnerung an den Holocaust ist extrem wichtig, ich habe selbst Konferenzen zum Antisemitismus ausgerichtet. 

Aber wir dürfen nicht unseren eigenen historischen Ballast auf den Schultern der Palästinenser abladen. Diese Blockade führt nur dazu, dass wir uns international isolieren. Deutschlands Ansehen geht gerade massiv den Bach runter. Wir erleiden einen Reputationsverlust ähnlich wie die USA im Jahr 2003, als die Amerikaner im Irakkrieg ihre moralische Führungsrolle weltweit verloren haben.  

Deutschland imitiert diese doppelten moralischen Standards im Kontext des Gaza-Krieges und das nimmt man uns weltweit sehr übel. Dieser Imageverlust wird sich auch wirtschaftlich bemerkbar machen. Im Zweifel wird man lieber mit anderen Partnern kooperieren. Das Ausmaß an Doppelmoral ist für jeden sichtbar.

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"Ich habe Angst vor einer wachsenden Entfremdung"

Was bedeutet diese Doppelmoral für die Gesellschaft hierzulande?

Hafez: Der Gaza-Krieg führt zu einer Entfremdung zwischen migrantischen Jugendlichen sowie Menschen mit Migrationshintergrund und den politischen und medialen Eliten. Bisher war das Systemvertrauen vieler Muslime in Deutschland höher ausgeprägt als bei vielen Nicht-Muslimen. Es gibt Untersuchungen, wonach sie Deutschland als einen verlässlichen Rechtsstaat betrachten.

Abgesehen von der Polizei hatten deutsche Institutionen bis vor kurzem ein relativ gutes Image bei Migranten. Wir sind aber durch den Gaza-Krieg dabei, diesen Kredit zu verspielen und Menschen mit Migrationshintergrund endgültig in Parallelgesellschaften abzudrängen. Hier habe ich Angst vor einer wachsenden Entfremdung.

Wir sehen eine sehr abgrenzende Form der Kommunikation mit der migrantischen Jugend, bei der mir jede Form von symbolischer Dialogbereitschaft auf Seiten der deutschen Politik und Massenmedien zu fehlen scheint. 

Das Interview führte Claudia Mende.

© Qantara.de 2024

Kai Hafez ist Politik- und Medienwissenschaftler und Professor an der Universität Erfurt. Er forscht insbesondere zu kulturvergleichender Medienethik, Medien und Politik in Deutschland und im Nahen Osten sowie Auslandsberichterstattung. 2020 wurde er in den "Unabhängigen Expertenkreis Muslimfeindlichkeit (UEM)“ des Bundesinnenministeriums berufen.