Gefährliche Beschwichtigungspolitik
Anfang Februar meldete Pakistan die ersten Covid-19-Fälle im Land. Um die Verbreitung des Virus zu verhindern, verhängten die pakistanischen Provinzregierungen verschiedene Ausgangssperren und Verbote von Menschenansammlungen, darunter auch das Verbot von Versammlungen für Freitagsgebete oder andere Gebete in Moscheen.
Dies rief bei den religiösen Kräften des Landes zum Teil bizarre Reaktionen hervor. Für die einen bedeuteten die Einschränkungen einen Angriff auf den Glauben, für die anderen waren sie eine Verschwörung der Amerikaner, um den Islam zu zerstören.
Am 15. April verkündeten in einer Pressekonferenz die wichtigsten Vertreter des sunnitischen Islam in Pakistan, sich künftig nicht mehr an die Einschränkungen der Regierung halten zu wollen. Sie würden ab sofort Moscheen für tägliche Gebete und Freitagsgottesdienste während des Ramadans öffnen. Bereits in der Vergangenheit waren die Maßnahmen vielerorts mutwillig gebrochen worden.
So bemühte sich beispielsweise jüngst Sharafat Khan, eine Polizei-Revierleiterin in Karatschi, vergeblich, eine Versammlung zum Freitagsgebet aufzulösen, zu der sich hunderte Menschen in einer Moschee versammelt hatten. Die Polizei konnte nur hilflos zusehen, selbst als die Beamten von der Menge attackiert wurden, und rückte schließlich unverrichteter Dinge ab.
Fahrlässig und ignorant
Die muslimischen Gelehrten Pakistans halten sich mit ihrer Kritik an solchen Verstößen dezidiert zurück. Selbst der pakistanische Premierminister Imran Khan oder der pakistanische Präsident Alvi wagen es nicht, diese Vergehen öffentlich zu verurteilen, denn archaische Vorstellungen der Religionsgelehrten in Frage zu stellen, ist in Pakistan ein Tabu. Dabei hat sich das Corona-Virus in Pakistan zuletzt vor allem durch Menschenansammlungen zu religiösen Anlässen ausgebreitet.
Als im vergangenen Februar die ersten Coronafälle in der Region publik wurden, ließ die Regierung unkontrolliert schiitische Pilger aus dem Iran zurückreisen, wohlwissend, dass sich die Islamische Republik zu einem Hotspot für die Ausbereitung des Virus entwickelt hatte.
Zudem erlaubte man zur gleichen Zeit in Lahore eine Versammlung der Tablighi-Jamaat mit fast hunderttausend Teilnehmern, von wo aus später Gruppen von Predigern zu Missionierungsreisen durch das ganze Land aufbrachen, und somit die Verbreitung des Virus im ganzen Land förderten.
Islamisierung und "Kalaschnikow-Kultur"
Dass die Politik ihre Augen vor den Machenschaften der religiösen Kräfte schließt, ist das Resultat der jahrzehntelangen Politik des Appeasements gegenüber dem Klerus. Als 1974 die damalige sozialistische Regierung das erste Mal mit den islamistischen Parteien des Landes paktierte, wurden die religiösen Kräfte endgültig zu Stakeholdern des pakistanischen Machtapparates.
Wenige Jahre später rief die Militärdiktatur unter dem damaligen Machthaber Zia-ul-Haq die sogenannte "Islamization" der Gesellschaft zur offiziellen Staatspolitik aus. Fundamentalistische Indoktrination wurde Teil des Curriculums an Schulen und in Madrasas, den religiösen Seminaren, des Landes. Begünstigt wurde diese Radikalisierung der Gesellschaft durch Waffenlieferungen und finanziellen Hilfen aus Saudi-Arabien und den USA, sodass eine ganze Generation des Landes mit fanatischen Ideen und der sogenannten "Kalashnikov Culture" aufwuchs.
Seitdem scheint es unmöglich, die Auswüchse dieser Politik zu bändigen. Bis heute wagt es in Pakistan niemand, religiöse Themen zu diskutieren, denn das Risiko ist groß, als Häretiker und Ungläubiger abgestempelt zu werden und um das eigene Leben zu fürchten.
Drohender ökonomischer Kollaps
Aktuell könnte die Lage katastrophale Folgen nach sich ziehen. Denn noch steht Pakistan am Anfang der Pandemie. Wenn die Infektionszahlen drastisch steigen, droht der komplette Kollaps der ohnehin maroden pakistanischen Wirtschaft bevor.
Einer der weltführenden Wirtschaftswissenschaftler und Professor der Universität Princeton, der pakistanisch-stämmige Atif Mian, hatte vor wenigen Wochen der pakistanischen Regierung dazu geraten, angesichts der Corona-Krise unmittelbar zu handeln und einen landesweiten Shut-Down zu verhängen, bevor die Pandemie ein Ausmaß erreicht, welches das Landes hart treffen würde.
Doch die pakistanische Regierung tut sich dabei selbst schwer, die eigenen medizinischen Sicherheitsmaßnahmen konsequent umzusetzen. Dabei ist die Vorbeugung keineswegs antireligiös oder gar antiislamisch. Schließlich gebietet der Islam in Zeiten der Ausbreitung von Seuchen, geeignete Schutzmaßnahmen zu ergreifen, da der Schutz des menschlichen Lebens zum höchsten Rechtsgut, dem sogenannten maqasid asch-scharia, zählt.
Zur Zeit des Propheten Muhammad wurde bei Unwetter das gemeinschaftliche Gebet in der Moschee ausgesetzt oder der Prophet gebot den Menschen in Zeiten von Seuchen Selbstisolation zu üben. Von diesen Begebenheiten leiteten die islamischen Theologen in Ägypten oder Saudi-Arabien ein Verbot von Versammlungen in Moscheen ab. Sogar die heiligsten Moscheen des Islam in Mekka und Medina unterliegen derlei Einschränkungen.
Die demonstrative Ablehnung dieser Maßnahmen durch den Klerus ruft in einigen Teilen der pakistanischen Bevölkerung Entsetzen und Missbilligung hervor.
Doch je früher es der pakistanischen Gesellschaft und Regierung gelingt, engstirnige religiöse Führer in die Schranken zu weisen, desto besser und effizienter wird man die Pandemie in Pakistan in den Griff bekommen. Dafür braucht es freilich ein wenig Mut und Zivilcourage.
Mohammad Luqman
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