Von der Bevormundung der Generäle zum neuen Autoritarismus?
Die jüngste Verhaftung von Ex-General İlker Başbuğ, bis August 2010 Generalstabschef der machtvollen türkischen Streitkräfte, sorgte nicht für neuerlichen politischen Unmut, sondern es zeigte sich auch, dass sie die ohnehin schon seit langem geführten Debatten um die dominante Rolle der Armee innerhalb des politischen Systems der Türkei noch weiter anheizte.
General Başbuğ wurde Anfang Januar in Gewahrsam genommen, weil er beschuldigt wird, an einer Internet-Kampagne beteiligt gewesen zu sein, deren Ziel es war, die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) des amtierenden Premierministers Recep Tayyip Erdoğan zu diskreditieren.
Die Verhaftung des mittlerweile pensionierten Başbuğ markiert den bisherigen Höhepunkt der Untersuchungen gegen das sogenannte Ergenekon-Netzwerk, einer ultra-nationalistischen Gruppe, der von den Strafverfolgungsbehörden eine Verschwörung zum Umsturz der Regierung zur Last gelegt wird.
Viele Experten glauben jedoch, dass es dabei aber weniger um einen sich seit langem hinziehenden Machtkampf zwischen der AKP und dem Militär geht, sondern eher um die Transformation der Türkei zu einem moderneren Staat.
Folgen des raschen Transformationsprozesses
Zu denen, die diese Ansicht vertreten, gehört auch Professor Mehmet Altan. Er weist darauf hin, dass die türkische Republik nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs von der bürokratischen und militärischen Elite gegründet worden sei. Die von ihnen ausgerufene Republik habe die zugrunde gerichtete Wirtschaft des Osmanischen Reichs geerbt, was zur Folge hatte, dass die entstehende Bourgeoisie weitgehend abhängig vom Staat geblieben sei – was sie natürlicherweise zur Unterstützung eines militärisch und bürokratisch ausgerichteten Staatswesens benötigt habe.
Altan fügt hinzu, dass das Militär und die bürokratische Elite seit dem Putsch von 1960 stets militärisch intervenierten, wann immer sie sich bedroht fühlten – und dies mit Zustimmung der von ihnen abhängigen Bourgeoisie. Gleichzeitig jedoch erlebte die Türkei einen schnellen Transformationsprozess, der eine neue Bourgeoisie hervorgebrachte, die ihre Basis in Anatolien hat und die ihre Entstehung nicht dem Staat verdankte. Diese neue Klasse schuf dann wiederum ihre eigene Partei: die AKP.
"Das Ziel dieser neuen Gruppe ist die Integration in die globale Ökonomie", so Altan im Interview mit Qantara.de. "Die internationale Staatengemeinschaft begrüßt ein solches Modell – nämlich das eines modernen, demokratischen Staates, der gleichzeitig muslimisch geprägt ist", so Altan und fügt hinzu, dass das türkische Militär nicht in der Lage gewesen sei, diesen Transformationsprozess angemessen zu untersuchen und stattdessen in einen Machtkampf mit der Regierung getreten sei.
Auch um die Begleichung alter Rechnungen ging es bislang zwischen türkischen Konservativen und dem Militär, das sich nach wie vor als Garant der säkularen Ordnung sieht.
Schlag gegen den politischen Islam
Die Armee, die zweitgrößte innerhalb der NATO, hatte allein zwischen 1960 und 1980 dreimal geputscht und zuletzt eine Regierung am 28. Februar 1997 gestürzt. Unzufrieden mit der Regierungsübernahme der Wohlfahrtspartei (RP), in denen sich einflussreiche Politiker fanden, die später die AKP mitbegründen sollten, hatte der Generalstab nach Wegen gesucht, sich dieser zu entledigen. Der Nationale Sicherheitsrat (MGK) fasste in einer Sitzung vom 28. Februar 1997 einen Beschluss und legte sie dem damaligen Premierminister und RP-Vorsitzenden Necmettin Erbakan zur Zustimmung vor.
Erbakan fügte sich den Beschlüssen, die sich insbesondere gegen den Einfluss des politischen Islams gerichtet hatten, und reichte seinen Rücktritt ein. Diesem "sanften" Putsch folgten einige strenge Einschränkungen des religiösen Lebens, darunter das Kopftuchverbot in öffentlichern Ämtern und in Universitäten. Armeeangehörige mit vermuteten Verbindungen zu religiösen Gruppen wurden entlassen.
Ahmet Taşgetiren zufolge, Kolumnist der Tageszeitung Bugün, sind es die Verantwortlichen des damaligen "sanften" Militärputsches, die im Zentrum der aktuellen Ergenekon-Untersuchung stehen. "Die Vorwürfe, die gegenwärtig den Verdächtigen im Ergenekon-Prozess gemacht werden, lassen sich alle dem alten System vom 28. Februar zuordnen.
Zu den 'inneren Bedrohungen', von denen in der Agenda des Nationalen Sicherheitsrates die Rede war, gehörten auch die 'reaktionären Kräfte'. Dies hat sich heute geändert. Die Reaktion wird nicht mehr als innere Bedrohung angesehen. Dieser Wandel ist wohl einer der bedeutendsten Schritte, der für die Demokratisierung in der Türkei geleistet wurde", stellt der Kolumnist fest.
Grenzenloser Einfluss der Militärs
Und doch reicht der Einfluss des Militärs auch heute noch in fast alle Bereiche des türkischen Alltags hinein – durch Gesetze, Richtlinien, Bestimmungen, Protokolle und Verordnungen, die Gesetzeskraft haben. Der Generalstab, der dem Premierminister untersteht, nicht aber dem Verteidigungsministerium, ist eine fast autonome Institution.
Im berüchtigten Artikel 35 des Internen Dienstkodex der türkischen Streitkräfte (TSK), von dem angenommen wird, dass er die Bereitschaft des Militärs zum Regierungsumsturz untermauert, heißt es:
"Die Pflicht der TSK ist es, das türkische Mutterland und die türkische Republik zu schützen und zu überwachen, wie es von der Verfassung vorgegeben ist."
Auch wenn dieser Artikel keine deutliche Bestimmung enthält, Staatsstreichen zu erleichtern, so diente er doch klar zur Legitimierung derselben.
Einige Experten, wie etwa Nuray Mert von der Tageszeitung Milliyet, unterstreichen, dass die neuen Beziehungen zwischen Armee und Zivilgesellschaft noch nicht institutionalisiert seien. Zudem, so betont er, bedeute eine Beschneidung der Rolle der Armee allein noch keine Demokratisierung.
"Die Beendigung der militärischen Bevormundung über die Zivilgesellschaft ist eine notwendige Bedingung für den weiteren Demokratisierungsprozess, aber keineswegs das einzige Kriterium hierfür", so Mert im Gespräch mit Qantara.de. "Ein Demokratisierungsprozess, der nur darauf abzielt, die Macht des Militärs zu beschneiden, birgt die Gefahr, einer autoritären Politik zu verfallen."
Fatma Kayabal
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de