„Eine Lösung erfordert politischen Mut“

Qantara: Das Wettrüsten zwischen Marokko und Algerien hat sich verschärft. Rabat hat F-16-Flugzeuge und das israelische Drohnenabwehrsystem Skylock Dome erworben, während Algerien seine Luftwaffe mit russischen Su-35-Flugzeugen verstärkt hat. Was sind die Motive für diesen Wettstreit?
Hicham Mouatadid: Das Wettrüsten zwischen Marokko und Algerien muss als Symptom der politischen Denkweise verstanden werden, die die Beziehung der beiden Länder prägt. Es ist keine spontane Entwicklung; vielmehr wird die Anspannung durch historische Missstände und widersprüchliche Narrative über Identität, Souveränität und regionalen Einfluss genährt.
Jedes Mal, wenn eines der beiden Länder einen Waffendeal abschließt, zieht das andere schnell nach und folgt der Logik der gegenseitigen Abschreckung. Doch dieses Gleichgewicht ist fragil. Es könnte in einen offenen Konflikt umschlagen, wenn die Kontrolle verloren geht oder Vermittlung fehlt. Letztlich beruht Sicherheit nicht allein auf Ausrüstung, sondern auf Vertrauen und strategischer Integration.
Wie beurteilen Sie den Gesetzentwurf zur Generalmobilmachung, den Algeriens Regierung im April ins Parlament eingebracht hat?
Die Erklärung der Generalmobilmachung ist mehr als Symbolpolitik. Sie sendet klare Botschaften an das In- und Ausland. Innenpolitisch stellt sie einen Versuch dar, die politische Landschaft neu zu ordnen und auf das Militär auszurichten. Außenpolitisch dient sie als Warnung angesichts der eskalierenden Spannungen mit Marokko. Parallel findet auch kein politischer Diskurs der Deeskalation statt, was Erwartungen und Besorgnis in der Region verstärkt.

Wo liegen die Wurzeln des Konflikts und seit wann ist er mit der Westsahara-Frage verknüpft?
Ein Grenzkonflikt zwischen Algerien und Marokko gipfelte 1963 im Sandkrieg, ein erster Ausbruch des Konflikts um politische Identität: Auf der einen Seite dieses Konflikts stand die marokkanische Monarchie, die den Treueeid (bayʿa) der Untertanen als Quelle staatlicher Legitimität betrachtete. Auf der anderen Seite das algerisch-republikanische Regime, dessen Legitimität auf der gewonnenen Revolution basierte. Die Algerier verstanden das Prinzip der staatlichen Selbstbestimmung als Erweiterung der revolutionären Ideologie und der historischen Bekenntnisses zum bewaffneten Befreiungskampf.
Die ideologische Spaltung führte später zu Algeriens Unterstützung der Polisario-Unabhängigkeitsbewegung in der Westsahara. In diesem Konflikt geht es für Marokko um die Kontrolle über das Gebiet, welches für seine historische, religiöse und verfassungsmäßige Legitimität zentral ist. Durch das Fehlen offizieller Kommunikation sowie durch die Medien- und Bildungspolitik beider Länder verstärkten sich die anhaltenden Spannungen zwischen Marokko und Algerien noch, das Feindbild des jeweils anderen festigte sich.
Im algerischen Diskurs wird Marokko als expansionistische Macht und Arm des Westens in der Region dargestellt, während im marokkanischen Diskurs das algerische Regime als geschlossenes System dargestellt wird, in dem die Generäle des alten Regimes das Sagen haben. Damit sind Militärs gemeint, die das algerische Leben während des Bürgerkriegs der 1990er Jahre bis zur Ära von Präsident Abdelaziz Bouteflika (1999-2019) dominierten.
Diese Stereotype stellen eine immer größere Herausforderung für jede Versöhnung dar. Ihre Überwindung erfordert ein integratives historisches und kulturelles Projekt, das die maghrebinische Geschichte auf einer gemeinsamen Grundlagen neu erzählt.
Die marokkanisch-algerischen Spannungen weiten sich auf das benachbarte Tunesien aus. Marokko zog im August 2022 seinen Botschafter aus Tunesien ab, nachdem der tunesische Präsident Kais Saied den Polisario-Chef Brahim Ghali empfangen hatte. Was steckt hinter diesem Streit?
Der diplomatische Bruch bietet Algerien möglicherweise die Gelegenheit, Rabats regionale Allianzen zu schwächen. Doch das ist nicht unbedingt der Hauptgrund für die jüngsten Entwicklungen. Tunesiens Entscheidung schien souverän getroffen worden zu sein, allerdings hat sie die Brisanz des regionalen Kontextes nicht berücksichtigt.
In Tunesien spielten in diesem Fall andere Faktoren wie der schwindende Einfluss Frankreichs und das Engagement neuer Mächte wie China und der Türkei eine Rolle. Dennoch besteht weiterhin Hoffnung auf eine arabische oder afrikanische Vermittlung, die das Eis brechen und die Beziehungen normalisieren kann.

"Bewaffneter Widerstand ist ihre einzige Wahl"
Seit Marokko mit seinen geplanten Infrastrukturprojekten in Dakhla seinen Einfluss in der Westsahara intensiviert, fragen sich viele Sahrauis, ob eine Volksabstimmung über die Selbstständigkeit der Westsahara die territoriale Präsenz Marokkos überhaupt rückgängig machen könnte. Aus Dakhla informiert Matthew Greene.
Die Spannungen werfen auch einen Schatten auf die Sahelzone. Die Beziehungen zwischen Mali und Algerien haben sich verschlechtert, obwohl Algerien 2015 als Vermittler zwischen der malischen Regierung und den Azawad-Bewegungen im Norden fungierte. Wie beurteilen Sie die wachsende regionale Dimension der Rivalität?
Nach dem Putsch in Mali 2021 verhielt sich das Land in seinen regionalen Beziehungen konfrontativ. Die Übergangsregierung betonte die Souveränität und verbat sich jede ausländische Einmischung. Die Krise erreichte ihren Höhepunkt, als Algerien implizit beschuldigt wurde, Rebellenfraktionen im Norden Malis zu unterstützen. Die dadurch entstandene Kluft beeinträchtigt nicht nur die bilateralen Beziehungen, sondern schafft auch ein Sicherheitsvakuum, das von extremistischen und transnationalen Akteuren ausgenutzt werden könnte. Besonders gefährlich ist dieser Konflikt, da er mit der Abwesenheit wichtiger internationaler Akteure wie Frankreich und dem Rückgang der UN-Vermittlungsbemühungen zusammenfällt.
Für Algerien war auch der wachsenden russischen Einfluss in Mali Grund zur Sorge, insbesondere die Wagner-Söldner. Diese waren dort von 2021 bis Juni 2025 aktiv. Algerien sieht seine strategische Stärke und seine südlichen Grenzen bedroht und versuchte, seinen Einfluss in der Sahelzone durch verschiedene diplomatische und sicherheitspolitische Initiativen wiederherzustellen.
Marokko beobachtet diese Dynamik und verfolgt im Umgang mit den Sahelländern, insbesondere Mali und Niger, eine pragmatische Politik in Form von Entwicklungsprojekten und einer diplomatischen Rhetorik. Dadurch sichert sich Marokko die Position des zentralen Vermittlers in der Region.
Am 17. Juni unterzeichnete Marokko ein strategisches Partnerschaftsabkommen zur Verteidigungskooperation mit Äthiopien. Wie beurteilen Sie diesen Schritt?
Diese Verteidigungspartnerschaft zeigt Marokkos Ambition, ein kontinentaler Akteur zu werden, der die regionale Sicherheit beeinflussen und sich als Akteur in den großen afrikanischen Konflikten behaupten kann – sei es in Libyen, der Sahelzone oder gar Somalia. Es handelt sich um einen diplomatischen Ansatz zum Machtausbau, der auf dem „Smart Power“-Ansatz basiert. „Smart Power“ verbindet Verteidigungsdiplomatie mit Bemühungen um Wirtschaft, Politik und Kultur, um die eigene Position in der globalen Machtstruktur zu verbessern.
Trumps Gesandter für Afrika und den Nahen Osten, Massad Boulos, hat seine Absicht bekundet, die Krise zwischen Algerien und Marokko zu beenden. Ist Washington angesichts der Anerkennung der marokkanischen Souveränität über die Westsahara ein akzeptabler Vermittler für beide Parteien?
Der bevorstehende Besuch spiegelt ein wachsendes amerikanisches Bewusstsein für die Notwendigkeit, die Eskalation einzudämmen, bevor sie zu einer regionalen Krise wird. Die US-Regierung versucht also, einen rhetorischen Ausgleich zu finden: Sie möchte ein tragfähiger Vermittler bleiben, dabei aber Marokkos Errungenschaften, insbesondere die Anerkennung der marokkanischen Souveränität über die Westsahara, nicht in Frage zu stellen, und gleichzeitig eine weitere Verschlechterung der Beziehungen zu Algerien vermeiden.
Washington setzt dabei auf einen größeren strategischen Rahmen, der beide Länder in die regionalen Sicherheitsbemühungen in der Sahelzone und in die gemeinsame Terrorismusbekämpfung einbindet und gleichzeitig die US-Interessen im westlichen Mittelmeerraum und in ganz Afrika wahrt. Selbst wenn die Vermittlung der USA die Lage vorübergehend beruhigen kann, reicht das ohne den echten politischen Willen beider Parteien nicht aus, um eine dauerhafte Lösung zu finden.
Was könnte aus Ihrer Perspektive zu einer solchen Lösung führen?
Es gab in der Vergangenheit zahlreiche Versuche, die Kluft zwischen den beiden Ländern zu schließen, sei es durch arabische Vermittlung oder bilaterale Koordination in den 1990er Jahren. Die meisten dieser Initiativen scheiterten aufgrund mangelnden politischen Willens und der Tendenz zur medialen Eskalation anstelle von Dialog.
Eine Lösung kann also nicht rein technischer oder diplomatischer Natur sein; sie erfordert vielmehr einen umfassenden geopolitischen Ansatz, der über die Westsahara-Frage hinausgeht und die Beziehungen der beiden Länder im Rahmen eines konstruktiven „Wettbewerbsgleichgewichts“ neu definiert. Dies ist angesichts der unbeständigen Lage und der zunehmenden Zahl ausländischer Interventionen in der umliegenden Region besonders wichtig.
Eine Zusammenarbeit in Fragen wie Grenzsicherheit, Energie oder Infrastruktur könnte eine gemeinsame Grundlage für eine Deeskalation schaffen, ähnlich wie dies in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg der Fall war. Gleichzeitig sind parallele Strategien wie Track-II-Diplomatie unerlässlich. Die Einbindung kultureller, wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Eliten in den Aufbau informeller Kommunikationskanäle kann die Grundlage für die Wiederaufnahme eines formellen Dialogs legen. Eine Lösung des Konflikts ist nicht unmöglich, erfordert aber politischen Mut.
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