Der Beginn einer neuen Ära?
"Ein Dorf sollte keine zwei Dorfoberen haben", sagt der stellvertretende türkische Premierminister Bülent Arınç, als er zu dem "historischen" Foto befragt wurde, das beim jüngsten Treffen des Obersten Militärrats (YAŞ) in Ankara gemacht wurde.
Was war anders? Im Gegensatz zu den bisherigen Gepflogenheiten bei diesem jährlich stattfindenden Treffen saß der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdoğan allein am Kopfende des Tisches. Gewöhnlich saßen bei den vergangenen Treffen der Premierminister und Oberste Stabschef nebeneinander am Kopfende des Tisches, ein Symbol der Machtteilung in der türkischen Politik.
Das neue Bild wird von vielen als Symbol dafür gesehen, dass Erdoğan nun die volle Kontrolle auch über das Militär übernommen hat. Dem waren die Rücktritte nicht nur des Obersten Stabschefs, Işık Koşaner, sondern auch der Kommandeure der Land-, See- und Luftstreitkräfte des Landes vorausgegangen – eine Folge der Meinungsverschiedenheiten mit der Regierung Ende Juli.
Experten wie Aslı Aydıntaşbaş von der türkischen Tageszeitung Milliyet unterstreichen, dass dieses Bild für den Beginn einer neuen Zeitrechnung stehen kann, auch wenn einige Politikbeobachter glauben, dass es noch zu früh sei, davon zu spechen, dass tatsächlich ein neues Kapitel in der türkischen Politik aufgeschlagen worden sei.
Vom Ende der "ersten republikanischen Ära"
Aydıntaşbaş schreibt, "dass die erste republikanische Ära, die auf einem starken Säkularismus gründete und 1923 unter der Obhut des Militärs etabliert wurde, nun zu einem Ende gekommen ist." Sie fügt hinzu, dass es jedoch noch völlig unklar sei, worauf diese neue Basis der zweiten Ära gründet.
In der Zeit, die Aydıntaşbaş als "erste republikanische Ära" bezeichnet, gab es vier Militärputsche: 1960, 1971, 1980 und 1997, von denen der letzte auch "post-moderner Putsch" genannt wurde. Der Coup von 1980 brachte die gegenwärtige Verfassung hervor, die, auch wenn es seitdem einige Verfassungsänderungen gegeben hat, noch immer als Hindernis auf dem Weg zur Demokratie in der Türkei angesehen wird. Vor den letzten Wahlen vom Juni 2011 versprach die regierende AKP ihren Wählern eine völlig neue Verfassung.
In einem Referendum war bereits am 12. September 2010, dem 30. Jahrestag des Militärputsches von 1980, über ein Paket von Verfassungsänderungen abgestimmt worden. Die mit einer Mehrheit von 58 Prozent angenommenen Verfassungszusätze schränken die Macht der türkischen Streitkräfte gleich in mehreren Bereichen ein.
Die Immunität gegen Strafverfolgungen, die man den Putschisten von 1980 in der damaligen Verfassung zugebilligte, wurde widerrufen, auch wenn bisher – trotz einiger juristischer Untersuchungen – keiner der damaligen Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen wurde.
Der entsprechende Verfassungszusatz änderte auch das zweigleisige türkische Justizsystem: Laut Verfassung vom 12. September 1980 durften Militärangehörige nur vor einem Militärgericht angeklagt werden, selbst wenn sie ein Verbrechen gegen die demokratische Ordnung begangen oder einen Putsch vorbereitet hatten oder gar in Drogengeschäfte verwickelt waren.
Nach Inkrafttreten der Verfassungsänderungen wurden einige Verfahren angestrengt, auf deren Basis mehr als 250 Militärangehörige, darunter einige hochrangige Generäle, inhaftiert und angeklagt wurden, einen Staatsstreich vorbereitet zu haben.
General Koşaner klagt an
In seiner Abschiedsbotschaft wandte sich der zurückgetretene General Koşaner an die inhaftierten Offiziere und stellte fest, dass er nicht mehr in der Lage sei, ihre Rechte zu verteidigen. Er behauptete ferner, dass die Untersuchungen, Verhaftungen sowie juristischen Verfahren gegen die Armeeangehörigen sich auf keinerlei konkrete Indizien gründeten, sondern einzig dem Zweck dienten, Angst, Wut und Verbitterung innerhalb des Armeecorps auszulösen.
Dabei sind die inhaftierten Generäle nicht der einzige Grund für den Machtkampf zwischen Regierung und Militär. Die gewaltlose Ablösung des Premierministers Necmettin Erbakan durch das Militär im Jahr 1997 markierte einen Wendepunkt. Erbakans islamisch-orientierte Wohlfahrtspartei ("Refah Partisi") hatte in einer Koalition mit der Partei des Rechten Weges ("Doğru Yol Partisi") regiert.
Die "Refah" war die erste Partei ihrer Art, die auf breite Zustimmung in der Wahlbevölkerung stieß und viele sehen die AKP als ihre direkte Nachfolgerin an. Die Armee hatte sich von Beginn an der regierenden AKP widersetzt. So veröffentlichte sie auf der Website des Generalstabs eine offizielle Erklärung gegen die Präsidentschaftskandidatur des damaligen Außenministers Abdullah Gül im Jahr 2007.
Als Reaktion setzte die Regierung kurzfristige Neuwahlen an, gewann eine deutliche Mehrheit und Gül wurde zum Präsidenten gewählt. Dieser Schachzug der Streitkräfte, von einigen auch als "E-Coup" bezeichnet, war eine weitere Runde im Kampf gegen die Armee, die von der AKP gewonnen wurde.
Das öffentliche Vertrauen in die Armee ist in der Türkei immer sehr stark gewesen, doch die Ereignisse der letzten Jahre trugen entschieden dazu bei, dass dieses Vertrauen nach und nach erodierte. Dieser Prozess begann mit dem Widerstand gegen die Kandidatur Güls und setzte sich, trotz der Zweifel, die auch an einigen Mitgliedern der früheren politischen Elite der Türkei haften blieben, mit einigen Gerichtsverfahren fort, bei denen mehrere Top-Generäle zu den Hauptverdächtigen gehörten.
Auch General Koşaner betonte dies in seiner Abschiedsbotschaft, in der er davon sprach, dass die Streitkräfte als kriminelles Netzwerk dargestellt worden wären.
Auftakt für eine grundlegende Armeereform?
Viele Experten meinen, dass der Rücktritt der vier Top-Generäle nun den Weg für die Regierung frei mache, eine Armeereform auf den Weg zu bringen, zu der auch die Unterordnung des Generalstabs unter das Verteidigungsministerium gehören könnte – seit langem eine Forderung der Europäischen Union. Wurden doch die zurückgetretenen Generäle ohnehin als ernsthaftes Hindernis für demokratische Reformen angesehen.
Doch gibt es auch viele Kritiker, die behaupten, dass trotz der Siege der zivilen Autoritäten über den militärischen Komplex viele notwendige demokratische Reformen bisher noch immer nicht angegangen worden seien.
Zu ihnen gehört Professor Mehmet Altan, der im Gespräch mit Qantara.de betonte: "Zur Gründung der zweiten Republik sollte die Türkei auf die Prinzipien von Pluralismus, Demokratie und einem auf die Bewahrung bürgerlicher Rechte ausgerichteten Weg setzen. Das Ziel ist die Garantie der Gewissensfreiheit, die Anerkennung religiöser Minderheitenrechte, die Reformen im Arbeitsrecht sowie mehr Rechte für die Gewerkschaften. Es muss sich erst noch erweisen, ob das Ziel nicht darin besteht, die existierenden Machtverhältnisse einfach zu übernehmen, sondern neue und demokratische aufzubauen."
Fatma Kayabal
© Qantara.de 2011
Aus dem Englischen von Daniel Kiecol
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de