Reden ist kein Verbrechen
Unter der ägyptischen Regierung ist der Missbrauch von Gesetzen gegen Verleumdung und Blasphemie zur Unterdrückung abweichender Meinungen besonders ausgeprägt. Insbesondere Artikel 98(f) des ägyptischen Strafgesetzbuches – der es Bürgern verbietet, eine der "himmlischen Religionen" zu verunglimpfen, religiösen Unfrieden zu stiften oder den Islam zu beleidigen – wird von ägyptischen Behörden schamlos ausgenutzt, um Angehörige religiöser Minderheiten, vor allem Christen, festzunehmen, strafrechtlich zu belangen und zu inhaftieren. Schon die vage Behauptung, dass ihre Aktivitäten die "Harmonie der Gemeinschaft" gefährden ist ausreichend.
Der Schriftsteller Ahmed Naji wurde kürzlich zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, weil er sexuell freizügige Auszüge aus seinem Roman veröffentlicht hat, die das "Anstandsgefühl" verletzen. Seine Verurteilung erfolgte nur einen Monat nachdem die Autorin Fatma Naoot Berufung gegen ihre Verurteilung zu drei Jahren Gefängnis eingelegt hat. Sie hatte in einem Facebook-Post die Schlachtung von Tieren für das islamische Opferfest kritisiert und wurde vom Gericht der "Verachtung des Islam" für schuldig befunden. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Einem 2015 veröffentlichten Bericht der US-amerikanischen "Kommission für Internationale Religionsfreiheit" (USCIRF) zufolge wird seit 2011 eine wachsende Zahl von Blasphemie-Fällen vor Gericht verhandelt. Im Januar 2015 hat Präsident Abdel Fattah al-Sisi eine Verfügung erlassen, die es der Regierung erlaubt, alle ausländischen Publikationen zu verbieten, die sie als Beleidigung der Religion erachtet und damit die ohnehin weitreichenden Zensurbefugnisse der Regierung ausgedehnt und den Druck auf Journalisten weiter erhöht.
Journalisten als Freiwild
In Tunesien ist die Lage nicht viel besser, wo einem Bericht der Nichtregierungsorganisation "Freedom House" von 2015 zufolge "der strafrechtliche Tatbestand der Verleumdung weiterhin eines der größten Hindernisse für unabhängige Berichterstattung darstellt". Hinzu kommen Befürchtungen, dass die neu gegründete Ermittlungsbehörde für Internetkriminalität des Landes eine "unkontrollierte Überwachung tunesischer Bürger durch die Regierung" durchführen wird, wie es unter Präsident Zine el-Abidine Ben Ali der Fall war, der im Zuge der Revolution des Arabischen Frühlings gestürzt wurde.
Jordanien hat seine Bemühungen die freie Meinungsäußerung einzuschränken durch eine Gesetzesänderung im Bereich Internetkriminalität verschärft, die es dem Staatsanwalt − ohne gerichtliche Anordnung – gestattet, jeden festzunehmen, dem Verleumdung über das Internet vorgeworfen wird. Während das jordanische Presse- und Publikationsgesetz die Verhaftung von Journalisten für in Printmedien veröffentlichte Meinungen verbietet, sind diese Journalisten jetzt Freiwild, wenn ihre Ansichten online erscheinen. Tatsächlich ist bereits in mehreren Fällen Anklage erhoben worden.
Ein Fall von großem öffentlichen Interesse im Zusammenhang mit Verleumdung im Nahen Osten ist die Vorladung der palästinensischen Abgeordneten Najat Abu Bakr zum Verhör. Sie hatte Hussein al-Araj, einen Kabinettsminister mit engen Beziehungen zu Präsident Mahmoud Abbas, der Korruption bezichtigt. Ein weiterer Beweggrund scheint Bakrs Unterstützung für einen Lehrerstreik im Westjordanland zu sein – mit der sie die Regierung Abbas in Verlegenheit gebracht hat.
Obwohl der palästinensische Generalstaatsanwalt im Rahmen der bestehenden Rechtsvorschriften in Bezug auf Verleumdung befugt ist, eine Person für 48 Stunden vorläufig festzunehmen, ist die Anordnung von Menschenrechtsorganisationen verurteilt worden. Najat Abu Bakr hat sich ihrerseits der Anordnung widersetzt und sich im Parlamentsgebäude zu einer Sitzblockade niedergelassen. Palästinensische Sicherheitskräfte haben das Gebäude umstellt, aber nicht versucht sie festzunehmen.
Die Verschärfung – und zunehmende Anwendung – von Verleumdungsgesetzen im Nahen Osten und Nordafrika steht für eine gefährliche Entwicklung, die zunehmend starke Gegenreaktionen zivilgesellschaftlicher Gruppen auslöst. So hat etwa der Fall des Schriftstellers Ahmed Naji ägyptische Autoren, Künstler und Filmemacher bewogen, eine öffentliche Kampagne für mehr schöpferische Freiheit und freie Meinungsäußerung ins Leben zu rufen.
Verleumdungsgesetze - eine gefährliche Entwicklung
Auch der ehemalige Google-Manager Wael Ghonim, ein Internet-Aktivist der Aufstände in Ägypten 2011, hat das Urteil gegen Naji öffentlich kritisiert. Mehrere künstlerische Publikationen staatseigener Verlage erschienen mit Ahmed Naji auf dem Titelbild oder einer − von wenigen Worten zur Unterstützung der Redefreiheit abgesehen − leeren Seite.
In Jordanien hat ein vom "Center for Defending Freedom of Journalists" angeführtes Bündnis eine neue Kampagne mit dem Titel "Talk is not a crime" (Reden ist kein Verbrechen) ins Leben gerufen, um die Öffentlichkeit für die schwindende Freiheit der Medien zu sensibilisieren. Und in Palästina haben Proteste an Zugkraft gewonnen, die sich gegen die Anwendung von Verleumdungsgesetzen richten, um politische Gegner ins Gefängnis zu bringen. Najat Abu Bakr erfährt die Unterstützung der Öffentlichkeit für die wichtige Rolle, die sie dabei gespielt hat zu erwirken, dass sie in ihr Haus in Nablus zurückkehren konnte, ohne verhaftet oder zum Verhör zitiert zu werden.
Der öffentlichen Empörung über einzelne Fälle sind Grenzen gesetzt. Kampagnen müssen sich auf tatsächliche Änderungen von Verleumdungsgesetzen konzentrieren – was zunehmend geschieht –, um dafür zu sorgen, dass diese nicht von Regierungen missbraucht werden können, um abweichende Meinungen zu unterdrücken. Dabei wird es entscheidend sein, Fälle von Verleumdung nicht länger als Strafbestand zu behandeln und so die Aussicht auf eine Freiheitsstrafe abzuschaffen. Stattdessen sollten diese Fälle als zivilrechtliche Streitsache verhandelt werden und Personen, die einer Verleumdung für schuldig befunden werden, mit angemessenen Geldbußen bestraft werden.
Es wird nicht einfach sein, Gesetzgeber zu zwingen, Verleumdung zu entkriminalisieren. Aber durch die konzertierte Anstrengung aller beteiligten Parteien – insbesondere der Medien, der Zivilgesellschaft und von Menschenrechtsaktivisten – sowie die Unterstützung durch regionale und internationale Akteure ist es möglich. Angesichts der entscheidenden Bedeutung der freien Meinungsäußerung für wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt gilt es keine Zeit zu verschwenden.
Daoud Kuttab
© Project Syndicate 2016
Aus dem Englischen von Sandra Pontow.
Daoud Kuttab ist ehemaliger Professor an der Princeton University und Gründer des "Institute of Modern Media" der Al-Quds University in Ramallah.