Die Judengasse: Über das multireligiöse Leben in Damaskus

Der letzte Sonnenuntergang des Jahres 2018 in Damaskus, Syrien.
Vor rund hundert Jahren lebten in Damaskus Christen, Juden, Muslime und andere religiöse Gruppen weitgehend harmonisch zusammen (Aufnahme von 2018). Foto: picture alliance/dpa | Ammar Safarjalani

Der syrische Autor Moussa Abadi erzählt in „Die Königin und der Kalligraph“ vom friedlichen Zusammenleben rund um das jüdische Viertel im Damaskus der 1920er Jahre. Schräge Typen, kuriose Geschichten, und dennoch: Das Damaskus von gestern könnte ein Modell für unsere Zeit sein.

Von Gerrit Wustmann

Die Frage, wie Menschen unterschiedlichen Glaubens friedlich zusammenleben können, ist wahrscheinlich älter als die Monotheismen selbst und scheint im Heute bisweilen unlösbar. Dabei ist die Antwort doch so einfach: indem man einander akzeptiert. Das funktioniert natürlich nicht, sobald Machtstreben und Politik ins Spiel kommen, sobald Menschen und Religionen instrumentalisiert und gegeneinander aufgehetzt werden. 

Aber es hat im Laufe der Geschichte zumindest zeitweise und immer mal wieder funktioniert, beispielsweise vor rund hundert Jahren in Damaskus. Lange Zeit war Syrien ein komplexes multiethnisches (Staats-)Gebiet, in dem Christen, Juden, Muslime und zahlreiche weitere religiöse Gruppen weitgehend reibungslos miteinander auskamen. Eine solche Episode nimmt, basierend auf den eigenen Kindheitserinnerungen, der jüdisch-syrische Autor und Theaterschauspieler Moussa Abadi (1910-1997) in seinem Buch „Die Königin und der Kalligraph“ in den Blick. 

Der ursprünglich 1994 auf Französisch, später auf Arabisch und nun in deutscher Übersetzung von Gerhard Meier bei Manesse publizierte Band ist ein literarisches Kleinod der so dringend notwendigen Völkerverständigung – und allein deshalb zeitlose Weltliteratur. Aber auch, weil es Abadi so spielend und humorvoll gelingt, das jüdische Viertel im Damaskus der zwanziger Jahre zum Leben zu erwecken – ein Viertel, das es so heute nicht mehr gibt, wie Rafik Schami in seinem Nachwort klarstellt.  

Schami, Jahrgang 1957, wuchs in einer Parallelstraße zu jener Gasse auf, von der Abadi so farbenfroh berichtet. Heute, so sagt er, leben dort nur noch zwölf Juden, viele Häuser sind zerstört, in anderen wohnen nun Anhänger der Hisbollah. Damals umfasste die jüdische Gemeinde knapp neuntausend Menschen, es gab Synagogen und jüdische Schulen im Herzen von Damaskus. 

„Dieses Buch“, schreibt Rafik Schami, „das von einer konkreten Vergangenheit erzählt, zeigt das humanistische Bild einer zukünftigen Gesellschaft, in der alle Menschen gleichberechtigt, frei und offen miteinander leben, ohne sich wegen ihrer Religion, ihrem Geschlecht oder ihrer Ethnie rechtfertigen zu müssen.“ Auch das wäre in einer vernünftigeren Welt eine Selbstverständlichkeit. Weshalb auch sollte man sich rechtfertigen müssen für etwas, das man sich in der Regel nicht einmal selbst aussucht? Schon der Gedanke ist absurd – und leider trotzdem tägliche Realität.  

غلاف النسخة الألمانية من كتاب "الملكة والخطّاط" لموسى عبادي

Interreligiöser Dialog im Alltag

Dass Moussa Abadi eine solche zutiefst humanistische Haltung eingenommen hat, ist keineswegs Zufall und längst nicht nur den Erfahrungen seiner frühen Jahre der Freiheit im Damaskus zwischen dem Ende des Osmanischen Reichs und dem Beginn der französischen Besatzung zu verdanken. Den Beginn des Zweiten Weltkriegs erlebte er als Student an der Sorbonne. Er flüchtete nach Nizza, wo er gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin und wenigen Unterstützern mehr als fünfhundert jüdische Kinder vor dem sicheren Tod durch die einfallenden Nazihorden beschützte, indem er sie versteckte. Nach dem Krieg arbeitete er jahrzehntelang als Schauspieler, Autor und Kulturjournalist. 

„Die Königin und der Kalligraph“ besteht aus sechsundzwanzig kleinen Episoden oder Geschichten in und im Umfeld des jüdischen Viertels, das damals, als der Begriff noch nicht negativ besetzt und mit dem Grauen des Holocaust assoziiert war, „Ghetto” genannt wurde. Tatsächlich aber war es ein offenes und für jeden zugängliches Stadtviertel mit einer zentralen Gasse.  

Mit liebevollem und bisweilen nostalgischem Blick erzählt Moussa Abadi vom jüdisch-muslimisch-christlichen Leben in der Stadt und von allerlei schrägen Typen und Episoden. Zum Beispiel von dem Versuch, eine Schule mit drei Klassen zu gründen, was daran scheitert, dass man vergisst, die Bewerber auf die Lehrerposten zu überprüfen. Einer räumt die Möbel aus dem Klassenzimmer, setzt sich vor den Schülern auf den Fußboden und brät einen Fisch – ob er den Kindern damit symbolisch einen Lehrinhalt vermitteln wollte, darf bezweifelt werden.  

Die titelgebende Königin derweil erweist sich als Hochstaplerin, allerdings als eine schwerreiche und freigiebige, weshalb sie den Menschen im Viertel im Nachhinein trotz ihrer abstrusen Geschichten in guter Erinnerung bleibt. Jede einzelne dieser Geschichten ist lesenswert, weil sie eine vergangene Zeit auferstehen lassen – und weil sie demonstrieren, wie interreligiöser Dialog im Alltag funktioniert: indem man seine Mitmenschen einfach so nimmt, wie sie sind. 

Moussa Abadi: Die Königin und der Kalligraph
Deutsch von Gerhard Meier, Nachwort von Rafik Schami 
209 Seiten, 26 Euro 
Manesse Verlag 2024 

Eine Leseprobe finden Sie hier.

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