Zerreißprobe zwischen der Türkei und der EU

Seit 2017 sitzt Osman Kavala in türkischer Untersuchungshaft. Zuletzt haben zehn Botschafter aus aller Welt seine Freilassung gefordert. Der Präsident reagiert erbost. Droht der Bruch mit der EU? Antworten von Pelin Ünker

Von Pelin Ünker

Osman Kavala ist niemals wegen eines Verbrechens verurteilt worden - dennoch sitzt er seit vier Jahren in türkischer Untersuchungshaft. Und das trotz eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Im September hatte der Europarat der Türkei unter Verweis auf das EGMR-Urteil mit Disziplinarmaßnahmen gedroht, falls sie den 64-Jährigen nicht bis Ende November freilässt.

Die Türkei erkennt das Urteil des Gerichtshofs für Menschenrechte vom Dezember 2019 nicht an. Darin heißt es, die Türkei habe in dem Verfahren gegen Kavala die Menschrechtskonvention verletzt, daher müsse dieser umgehend freigelassen werden. Die Verhaftung sei politisch motiviert, es gebe keine schlüssigen Beweise für die Anschuldigungen. Die Türkei dagegen erklärte, das Urteil des EU-Gerichtshofes sei nicht endgültig.

Doch der internationale Druck auf die Türkei ist zuletzt in der Causa Kavala deutlich gestiegen.

Das Statement der Botschafter

Die Botschafter aus Deutschland, Kanada, Dänemark, Finnland, Frankreich, den Niederlande, Neuseeland, Norwegen, Schweden und den USA verlangten am 18. Oktober eine "zügige und gerechte" Entscheidung im Fall Kavala.

Bei den Protesten im Gezi-Park 2013 kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. (Foto: Getty Images/AFP/B. Kilic)
Provokation aus wahltaktischen Gründen? Im Streit um den inhaftierten türkischen Kulturförderer und Menschenrechtsaktivisten Osman Kavala lässt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan den deutschen Botschafter, den US-Botschafter sowie acht weitere Botschafter zu "unerwünschten Personen" erklären. Politische Beobachter gehen von einer kalkulierten Provokation Erdogans aus, um von den Problemen der türkischen Wirtschaft und von seiner sinkenden Popularität abzulenken.

In einem gemeinsamen Statement fordern die zehn Länder die Türkei auf, das Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte umzusetzen. "Die anhaltenden Verzögerungen in Kavalas Prozess, einschließlich der Zusammenlegung verschiedener Fälle und der Schaffung neuer Anschuldigungen nach einem Freispruch, werfen einen Schatten auf die Achtung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Transparenz im türkischen Justizsystem", heißt es in der Erklärung der Botschafter.

Präsident Recep Tayyip Erdogan wies die Anschuldigungen zurück und reagierte erbost. Zunächst ließ er das Außenministerium die Botschafter einbestellen, drohte mit Ausweisung und erklärte sie zuletzt zu "persona non grata". Auf diese Einstufung folgt in der internationalen Diplomatie in der Regel die Ausweisung.

Was wird Kavala vorgeworfen?

Am 18. Oktober 2017 wurde Kavala verhaftet während einer Veranstaltung der von ihm gegründeten Organisation Anadolu Kültür mit dem deutschen Goethe-Institut. Die Anklage wirft ihm vor, die Gezi-Park-Proteste 2013 finanziert zu haben und die verfassungsmäßige Ordnung zerstören zu wollen. Kavala wurde umgehend in das Hochsicherheitsgefängnis Silivri vor den Toren Istanbuls gebracht.

Zwar wurde er im Februar 2020 freigelassen, aber nur wenige Stunden später ein neuer Haftbefehl präsentiert. Diesmal wird ihm vorgeworfen, in den Putschversuch vom Juni 2016 verwickelt zu sein. Einen Monat später wurden diese Vorwürfe ebenfalls fallengelassen, doch er wurde weiter in Untersuchungshaft belassen - diesmal wegen des Vorwurfs der "politischen und militärischen Spionage".

Im Mai 2020 wies der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Forderung der Türkei zurück, das Urteil von 2019 zur Klärung an eine höhere Instanz weiterzugeben.

Wahllose Zusammenlegungen der Verfahren

Und die Türkei geht weiter gegen Kavala vor: Im September 2020 legte der Istanbuler Chefankläger weitere Vorwürfe vor. Darin wird Kavala beschuldigt mit Henri Barkey zusammenzuarbeiten - einem prominenten türkischen Wissenschaftler in den USA. Und wieder geht es um "eine Rolle in dem Putschversuch".

Osman Kavala will zukünftig nicht mehr persönlich an den Prozessen gegen ihn teilnehmen (Archivbild). (Foto: Wiktor Dabkowski/dpa/picture alliance)
Türkischer Kulturmäzen und prominenter Akteur der Zivilgesellschaft: Der 64 Jahre alte Philanthrop Osman Kavala hat zahlreiche zivilgesellschaftliche Projekte in der Türkei gefördert und ist Gründer der Organisation Anadolu Kültür, die auch mit dem Goethe-Institut und anderen deutschen Stiftungen zusammenarbeitet.

Im Januar 2021 zog die türkische Justiz die Freilassung im Gezi-Park-Verfahren zurück. Diese Anklage wurde dann zunächst in einem gemeinsamen Verfahren zum Putschversuch und den Spionagevorwürfen verhandelt. Kavala bleibt in Haft.

Das Gezi-Park-Verfahren wird im Juli 2021 erneut mit einem anderen Verfahren zusammengelegt. Darin wird 35 Mitgliedern des Fußballvereins Besiktas die Organisation eines Putschversuches während der Gezi-Park-Proteste vorgeworfen. Der Prozess soll am 26. November beginnen.

Kavals Anwälte erklärten, dass die Anklage vom September 2020 auf reinen Mutmaßungen basierten und jegliche Beweise dafür fehlten. Auch Menschenrechtsorganisation weltweit haben Kavalas Verhaftung scharf kritisiert und sie als politisch motiviert bezeichnet.

Wer ist Osman Kavala?

Osman Kavala ist eine der prominentesten Personen der türkischen Zivilgesellschaft. Der Unternehmer hat seit Anfang der 1980er Jahre an der Gründung mehrerer Verlage in der Türkei mitgewirkt und später zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen unterstützt.

2002 gründete er Anadolu Kültür. Zu den Zielen der Organisation gehört, die Produktion und Förderung von Kunst und Kultur in der Türkei zu ermöglichen, lokale Initiativen zu unterstützen, die kulturelle Vielfalt und Rechte hervorzuheben und lokale und internationale Kooperationen zu stärken. Kavala gehörte zudem zu den Gründern des türkischen Zweigs der Open Society Foundation des US-Philanthropen George Soros, dem Feindbild vieler Populisten.

Pelin Ünker

© Deutsche Welle 2021

Dieser Text wurde aus dem Englischen adaptiert.

 

Mehr zur Demokratie in der Türkei: 

Presse- und Kunstfreiheit in der Türkei: Eine Atmosphäre der Selbstzensur

Putschversuch in der Türkei vor drei Jahren: "Ein Geschenk Allahs" für Erdoğan

Autoritärer Wandel in der Türkei: Der Ein-Mann-Staat 

Die Türkei nach dem Putschversuch: Der Kampf um das Erbe der Gülen-Bewegung 

Kulturschaffende in der Türkei: Säubert Erdoğan türkische Staatstheater?