„Wir sind in einem rechtlichen Vakuum“

Eine Gruppe von Menschen sitzt auf einem Bahnsteig, umgeben von Gepäck.
Sudanesische Familien kehren aus Kairo in den Sudan zurück, Juli 2025. (Foto: Picture Alliance / Matrix Images | K. Elfiqi)

Mehr als eine Million registrierte Flüchtlinge leben in Ägypten, die meisten aus dem Sudan. Ein neues Gesetz schwächt ihren Schutz und verstößt damit gegen internationales Recht, warnt Nour Khalil von der NGO Refugees Platform Egypt.

Interview von Clara Taxis

Qantara : In Ihrem aktuellen Bericht „Der Zusammenbruch des ägyptischen Flüchtlingsschutzes“ diskutieren Sie ein im Dezember 2024 neu eingeführtes Gesetz . Wie hat es das Asylsystem verändert? 

Nour Khalil: Bis Dezember 2024 gab es in Ägypten kein nationales Asylrecht. Der Flüchtlingsschutz basierte auf der Verfassung, dem Völkerrecht und einem Memorandum of Understanding zwischen dem UNHCR und der ägyptischen Regierung.  

Die Verantwortung für den Flüchtlingsschutz wurde aufgeteilt: Das UNHCR prüfte die Fälle und entschied über den Schutzstatus; anschließend erteilten die ägyptischen Ministerien Aufenthaltsgenehmigungen. Die Partner des UNHCR organisierten in Zusammenarbeit mit dem Staat die Grundversorgung der Geflüchteten. 

Ein Mann mit Brille und Anzug sitzt vor einem Mikrofon. Hinter ihm der Schriftzug des EU-Parlaments.
Menschenrechtsanwalt

Nour Khalil ist Menschenrechtsanwalt und Geschäftsführer der Refugees Platform in Egypt. Nour hat einen Abschluss in Rechtswissenschaften und islamischer Rechtssprechung von der Al-Azhar-Universität.

Durch das neue Gesetz ändert sich dieses System grundlegend. Es entsteht ein nationales Asylsystem, das alle Aufgaben unter staatlicher Kontrolle zentralisiert. Es gelten strenge Bedingungen für nur eingeschränkte Rechte. 

Unser Hauptkritikpunkt ist, dass das Gesetz Nr. 164 gegen internationales und nationales Recht verstößt: Der Text sieht weder transparente Asylverfahren noch eine unabhängige Überprüfung des Gremiums vor, das zukünftig über den Status der Menschen entscheidet. Wenn jemand Berufung gegen die Entscheidung des Gremiums einlegt, ist die Person in der Zeit nicht vor Abschiebung geschützt. 

Wir sehen in der Praxis bereits, dass dies zu ausufernden Abschiebungen führt, was gegen das Prinzip der Nichtzurückweisung verstößt. Statt Schutz zu bieten, konzentriert sich das Gesetz auf die Kriminalisierung illegaler Einreisen. Auch Staatsangehörige, die Flüchtlinge in irgendeiner Weise unterstützen, riskieren rechtliche Folgen.  

Das Gesetz ist seit fast einem Jahr in Kraft, doch der Übergang vom alten zum neuen System ist noch immer unklar. Warum? 

Das führt uns zur Quelle des aktuellen Chaos: Das Gesetz selbst definiert keine Übergangsphase und lässt viel Raum für Ausgestaltung durch die Exekutive. Es sieht vor, dass der Premierminister innerhalb von sechs Monaten entsprechende Anordnungen erlässt. 

Bislang hat seine Regierung jedoch noch nicht einmal Beratungsgespräche mit Akteuren aus den betroffenen Communities, Vertreter:innen der Zivilgesellschaft oder internationalen Organisationen initiiert. Die Konsequenz ist ein rechtliches Vakuum. Es gibt noch keine Instanz, die die Aufgaben des UNHCR übernehmen könnte.  

Da die UNHCR-Dokumente von den ägyptischen Behörden nicht mehr anerkannt werden, stellt sich die Frage: Wie gehen die über eine Million registrierten Geflüchteten mit der Situation um?  

Es herrscht große Unsicherheit. Jede Person mit einem Schutzstatus muss ihre Aufenthaltsgenehmigung regelmäßig erneuern, doch das Innenministerium verzögert die Terminvergabe um bis zu zwei Jahre und verhindert so die Ausstellung von Aufenthaltsgenehmigungen. Die Behörden warten auf die Umsetzung des neuen Systems. 

Es besteht die berechtigte Sorge, dass Flüchtlinge und Asylsuchende, die derzeit beim UNHCR registriert sind, in Zukunft ein zweites Prüfverfahren bei der geplanten Behörde durchlaufen müssen. Wir wissen nicht, welches Schicksal sie dann erwartet.

Neuankömmlinge, die noch nicht beim UNHCR registriert sind, müssen mit Wartezeiten von bis zu zwölf Monaten für einen Termin rechnen, was den Prozess zusätzlich verzögert. Während dieser Zeit ohne Aufenthaltserlaubnis stehen die Geflüchteten unter der Aufsicht der ägyptischen Strafverfolgungsbehörden.

Ihnen wird der Zugang zu Dienstleistungen verweigert, darunter Telekommunikation, Rechtsberatung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung und Bildung. Sie leben in ständiger Gefahr, unter dem Vorwand illegalen Aufenthalts inhaftiert und abgeschoben zu werden.

Die EU steht hinsichtlich der Migrationspolitik in engem Kontakt mit Ägypten. Das Europäische Parlament hat 2024 ein Hilfspaket in Höhe von 7,4 Milliarden Euro beschlossen. Wie reagiert die EU auf die jüngsten Entwicklungen?  

Die EU hat den ägyptischen Behörden bei der Ausarbeitung der sogenannten „nationalen Asylgesetzgebung“ geholfen. Nach EU-Logik ist dieses Asylsystem zentral für ihr langfristiges Ziel: Ägypten zu einem sicheren Herkunfts- und Drittstaat zu erklären.

In der Vergangenheit wurden Menschenrechtsverletzungen ignoriert oder verharmlost, damit die EU weiter behaupten konnte, Ägypten sei ein sicherer und verlässlicher „Partner“ im Migrationsmanagement . Wir erwarten daher von der EU keine wirkungsvolle Kritik an dem neuen Gesetz. 

In dem Bericht erwähnen Sie den Fall einer 95-jährigen Sudanesin, die verhaftet wurde, nachdem sie illegal nach Ägypten eingereist war. Sie war verletzt und schwach und starb kurz darauf in einem Gefangenentransporter. Warum wurde sie nicht besser behandelt? 

Dieser Fall beweist, dass das ägyptische Militär irreguläre Grenzübertritte als Sicherheitsbedrohung wahrnimmt, selbst wenn es sich um schutzbedürftige Menschen handelt. Die Frau wurde bei einem Unfall in der Wüste verletzt, im Fahrzeug des Schmugglers. Die Reise dauert bis zu zwölf Stunden, die Flüchtenden haben meist keinen Sonnenschutz oder frisches Wasser. 

Dennoch beging die Frau in den Augen des ägyptischen Staats mit dem Grenzübertritt ein Vergehen.  Sie wurde festgenommen, die Sommerhitze und der fehlende Sauerstoff in diesem stickigen Gefangenentransporter führten zu ihrem Tod. 

Darüber hinaus verschwinden viele Menschen schon in der Wüste, entweder durch tödliche Unfälle oder weil sie in Militärlagern landen. Es gibt keine Such- und Rettungsmissionen in der Wüste entlang der ägyptisch-sudanesischen Grenze. 

Hätte die Frau mehr Glück gehabt – wäre sie weder verwundet noch in Assuan verhaftet worden –, hätte sie dann eine Chance auf Flüchtlingsstatus in Ägypten gehabt? 

Das ist unwahrscheinlich. Die Behörden verhaften die Geflüchteten nicht nur in der Wüste und in Assuan. Sie führen auch Kontrollen entlang der Bus- und Zugstrecken nach Norden durch. Nur in Kairo können Menschen Schutz beantragen. Dem UNHCR wurde nicht gestattet, Registrierungszentren in Grenznähe einzurichten oder gar die Situation dort zu überwachen.  

Hätte sie es nach Kairo geschafft, wäre ihr wegen des oben erklärten rechtlichen Vakuums möglicherweise ein Schutzstatus verwehrt geblieben. Das Risiko einer Verhaftung und Abschiebung in den Sudan wäre hoch gewesen. 2024 haben wir über 20.000 Fälle von Abschiebungen in den Sudan dokumentiert – darunter auch Personen mit UNHCR-Papieren.  

Weil sie keine Chance sehen, langfristig legal in Ägypten zu leben, versuchen viele Sudanes:innen, nach Libyen zu gelangen. Nach Angaben der libyschen Behörden sind zwischen April 2023 und Januar 2025 20.000 bis 25.000 Sudanes:innen aus Ägypten nach Libyen eingereist.

Abschiebungen sind ohne die Zustimmung des Herkunftsstaates nicht möglich. Welche Rolle spielt die sudanesische Botschaft?  

Ohne ihre Zustimmung könnte Ägypten niemanden in den Sudan abschieben. Im Rahmen der Abschiebungen wird regelmäßig Völkerrecht verletzt: Familien werden getrennt, Identifikationsdokumente zerrissen oder ignoriert. Die Botschaft hat sogar die Abschiebung von Geflüchteten aus anderen Ländern in den Sudan ermöglicht, beispielsweise von Eritreer:innen. 

Betrifft die Situation auch andere Geflüchtete, etwa aus Syrien oder Palästina? 

Aufgrund ihrer schieren Zahl sind Sudanes:innen am stärksten betroffen. Allerdings werden auch syrische und eritreische Flüchtlinge verhaftet sowie eingewanderte Arbeiter:innen verschiedener Nationalitäten.  

Menschen aus Palästina stehen vor mehreren Problemen. 2024 war die Einreise nach Ägypten über den Grenzübergang Rafah für einige Zeit möglich. Unternehmen mit Verbindung zu ägyptischen Behörden zwangen Palästinenser:innen zur Zahlung von über 5.000 US-Dollar. Die ägyptischen Behörden verweigern den Evakuierten aber Aufenthaltsgenehmigungen und so den Zugang zu Dienstleistungen.  

Während die Abschreckungsmaßnahmen immer extremer werden, verbreiten sich in den sozialen Medien Hetze und Fehlinformationen über Geflüchtete. Auch in Reden ägyptischer Amtsträger:innen kippt der Diskurs. 

Die Situation, die Sie beschreiben, ist sehr gewaltvoll. Wie sammeln Sie vor Ort Informationen? 

Wir arbeiten mit verschiedenen Quellen. Uns liegt eine Vielzahl von Berichten und Dokumenten vor, von denen einige öffentlich zugänglich sind. Andere Informationen gelangen durch Quellen in der ägyptischen Verwaltung zu uns, und wir überprüfen interne Akten verschiedener Strafverfolgungsbehörden. 

Das Sammeln von Informationen vor Ort ist riskant, da die Veröffentlichung „falscher“ Informationen – oder jeglicher Informationen über Gebiete, die das Militär kontrolliert – stark kriminalisiert wird. Auch in Haftanstalten dürfen wir keine Informationen sammeln. Nicht einmal UNHCR hat Zugang zu diesen Einrichtungen.  

Wir sind also auf die Menschen angewiesen, die selbst auf der Flucht sind. Sie sind die mutigsten Zeug:innen. Weil der Flüchtlingsschutz in Ägypten zusammengebrochen ist, ist rechtliche Unterstützung schwierig. Also dokumentieren wir ihre Reisen und sammeln ihre Zeugenaussagen. 

 

Dieser Text ist eine bearbeitete Übersetzung des englischen Originals. Übersetzt von der Autorin.

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