Kunst auf unsicherem Boden

Zwei Personen stehen in einem Korridor, mit dem Rücken zueinander, und betrachten Gemälde, die an den Wänden hängen.
Istanbul-Biennale: Isolation, Prekarität und Gaza sind hier Thema (Foto: IKSV | M.K. Özdilek)

Zwei hochkarätige Events haben die Kunstwelt in die Türkei gezogen: die „Contemporary Istanbul”-Messe und die 18. Istanbul-Biennale. Vor dem Hintergrund politischer Krisen und wachsender Zensur finden Kunstschaffende kreative Wege, um relevant zu bleiben.

Von Naima Morelli

„Sind wir in Dubai oder in Istanbul?“, fragt eine befreundete Sammlerin, als sie im Istanbuler Viertel Tersane nach stundenlangem Stau aus ihrem schwarzen BMW steigt. Für zwei Großereignisse ist sie angereist: die Contemporary Istanbul im September und die 18. Istanbul Biennale, die noch bis Ende November läuft.  

„Das fühlt sich überhaupt nicht nach Istanbul an“, bemerkt sie beim Gang über das „Contemporary Istanbul“-Messegelände, eine polierte ehemalige Werft neben Lagerhallen mit Alo Yoga- und Gucci-Outlets. Auf einem schicken Platz versuchen Kinder Basketball zu spielen, im Hintergrund glitzert das Goldene Horn. 

Ihre Reaktion spiegelt die Vision wider, die Ali Güreli, Organisator der Messe und ehemaliger Hotelier, für die 20. Ausgabe der Contemporary Istanbul verfolgt hat: eine Messe, ausgerichtet auf die Golfstaaten und ihre kulturellen Strategien zur Förderung von Tourismus und Investitionen. 

Auf einer Pressekonferenz sprach Güreli von einer „Bewegung Richtung Osten“; Asien und der Nahe Osten würden eine neue geografische Ordnung etablieren, die die einstige Dominanz des Westens mehr und mehr ablöst. 

Bei der Eröffnung lobte Pierre Sigg von der Sigg Foundation, einem Partner der Messe, Istanbuls kulturelles Erbe als besondere Stärke. Doch der Veranstaltungsort wirkt wie eine abgeschottete Luxuswelt – räumlich und sozial vom Alltag der Stadt entkoppelt. Paläste und Moscheen glitzern in der Ferne, der Weg nach Tersane führt jedoch durch Verkehrsstaus oder zu Fuß über Baustellen. Vom angekündigten Bootstransfer keine Spur. 

A corridor with paintings and sculptures laid out across the room.
„Eingeschlossen in einer luxuriösen Blase”? Die Contemporary Istanbul 2025 fand im Tersane statt, einem sanierten ehemaligen Werftgelände. (Foto: Contemporary Istanbul)

Man könnte meinen, die Messe wollte sich und ihr Publikum vor dem Chaos abschirmen, das Istanbul zuletzt erfasst hat – möglicherweise eine Überlebensstrategie. Politische Repression und Zensur prägen das kulturelle Leben in der Türkei seit Jahren, haben sich in den letzten Monaten jedoch deutlich verschärft.  

Konzerte, Filmvorführungen und Pride-Paraden werden unter Berufung auf vage definierte Regeln der „öffentlichen Moral“ verboten; Künstler und Journalisten wegen „Beleidigung religiöser Werte“ oder „Verleumdung des Staates“ vor Gericht gestellt. 

Die Verhaftung von Oppositionsführer und Ex-Bürgermeister Ekrem İmamoğlu im März, einem prominenten Förderer der Kulturszene, löste friedliche Proteste in Istanbul aus – rasch beantwortet mit Polizeigewalt.  

Die Inflation zählt zu den höchsten weltweit und bringt Kunstschaffende in existenzielle Not. Viele unabhängige Einrichtungen kämpfen ohne staatliche Unterstützung ums Überleben oder müssen wegen angeblicher Verstöße gegen Auflagen plötzlich schließen. 

Contemporary Istanbul: Kunst in einer ungewissen Welt

Vor diesem Hintergrund bemühte sich die Messe, ein Signal von Zuversicht und Widerstandskraft zu senden. „Wir sehen die Contemporary Istanbul als Plattform, um die sich entwickelnde Kunstszene zu zeigen, ein positives Bild unseres Landes zu vermitteln und unsere starken zeitgenössischen Künstler der globalen Kunstwelt vorzustellen“, erklärte Organisator Güreli.  

Um internationale Sammler und Galerien anzuziehen, bot die Messe großzügige Anreize: Übernahme der Zollgebühren, Transport mit Turkish Airlines sowie gesponserte Hotelaufenthalte. „Es geht darum, den Galerien bessere Budgets zu ermöglichen – und Istanbul als einen Gastgeber zu positionieren, der keine Mühen scheut“, so Güreli. 

„Niemand weiß, wohin sich die Welt entwickelt“, sagte Sarp Kerem Yavuz, künstlerischer Leiter der Messe. Statt Unsicherheit auszuweichen, hat er die Künstler aufgefordert, sich ihr zu stellen. Im Rahmen des Programms „Disrupted Coordinates: Istanbul and the Shifting Landscape of Art“ diskutierten 25 Referentinnen und Referenten über digitale Kunst, Sammlerethik und künstlerisches Schaffen in Krisenzeiten.  

Zahlreiche Werke griffen geopolitische Themen auf. Die jüngsten Repressionen in Istanbul wurden von den Galerien jedoch meist indirekt behandelt – offene Kritik blieb aus. 

Bei Anna Laudel zeigte Bilal Hakan Karakaya einen ramponierten Koffer, gefüllt mit Buntglasscherben aus der Sirkeci-Station, dem historischen Ausgangspunkt vieler türkischer „Gastarbeiter“ in den 1970er Jahren. 

Die Revolver Galeria präsentierte José Carlos Martinats Graffiti-Extrakte von südamerikanischen Wänden, darunter eine Platte mit dem Bild einer Cholita – Symbol des indigenen Widerstands in Bolivien.  

Azra Tüzünoğlu, Direktorin der Pilot Gallery, warnte vor einem Bedeutungsverlust der türkischen Kunstszene: „Das internationale Publikum interessiert sich derzeit weniger für die Türkei, und das ist ein bisschen schade, denn ich denke, wir verlieren an Strahlkraft.“ 

Dennoch betonte Tüzünoğlu, dass die Istanbuler Kunstszene weiter Debatten ermögliche, die anderswo verstummt seien – etwa offene Solidarität mit Palästina. Zwar würden bestimmte Themen zunehmend tabuisiert, doch gebe es weiter Raum für Künstler, die ihre Positionen klug und subtil formulierten.  

„Vielleicht darf man hier nichts über Religion sagen, vielleicht keine queeren Arbeiten zeigen, aber wir präsentieren dennoch viele (queere) Künstler. Unter Druck findet man immer Wege, sich auszudrücken“, sagte sie. 

Istanbul-Biennale: triumphale und politische Rückkehr

Während die Messe die Widerstandskraft des Istanbuler Kunstmarkts demonstrierte, führt die Biennale vor, wie Institutionen einen Skandal überwinden können. Die 18. Ausgabe war verschoben worden, nachdem die Ernennung von Iwona Blazwick zur Kuratorin – zuvor Mitglied des Auswahlkomitees – Kritik ausgelöst hatte.  

Es folgten Vorwürfe der Vetternwirtschaft und mangelnden Transparenz; ein offener Brief fand Hunderte Unterzeichner. Blazwick trat im Juli 2023 zurück, die Biennale wurde auf 2025 vertagt, die Istanbul Foundation for Culture and Arts (İKSV) geriet in eine Legitimitätskrise. 

Zur Wiederherstellung des Vertrauens ernannte İKSV die libanesische Kuratorin Christine Tohmé, Gründerin der Beiruter Institution Ashkal Alwan. Sie konzipierte die Biennale als dreijährigen Prozess (2025–2027), der mit einer Ausstellung im September begonnen hat. Die Eröffnung zog ein junges Publikum an die Orte in Taksim, Pera und Galataport. 

Tohmé stellt die Frage, wie sich Gemeinschaften ihr Überleben vorstellen, wenn ihr Alltag von Prekarität geprägt ist. Die Biennale antwortet mit Werken zwischen Ernst und spielerischer Reflexion. Wie die Messe richtet sie den Blick stärker auf internationale als auf nationale Themen. 

Besonders präsent ist Gaza und der – von Genozidforschern sowie internationalen Organisationen als solcher eingestufte – Völkermord. Mehrere eindrucksvolle Arbeiten setzen sich damit auseinander, darunter ein Werk des palästinensischen Künstlers Sohail Salem, der Notizbücher mit Dokumentationen zur systematischen Zerstörung Gazas gefüllt hat. 

Zu den eindringlichsten Arbeiten zählt „Tomorrow, again“ (2023) von Mona Benyamin. In Form einer Nachrichtensendung inszeniert sie Polizisten, die leere Phrasen austauschten – „er hat es getan“, „er hat es nicht getan“ –, während ein Wettermoderator in Tränen ausbricht. Das Werk untersucht, wie Palästina in den Medien auf Rhetorik reduziert wird: Völkermord, verkleidet als Debatte, bis die Sprache selbst zusammenbricht. 

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Ein Standbild aus Mona Benjamins Videoarbeit „Tomorrow, again” aus dem Jahr 2023. (Foto: İKSV | Sahir Uğur Eren)

Soziale Ängste und Isolation ziehen sich als Thema durch mehrere Arbeiten. Valentin Noujaïms Zementplatten in seiner Pariser „La Défense“-Trilogie zeigen pulverisierte Gesichter und Stimmen, die an Nächte des Verlusts erinnern.  

Karima Achadous „Machine Boy“ dokumentiert das rastlose Leben der Motorradfahrer in Lagos. Besonders eindrücklich ist Selma Selmans Installation aus aufgetürmten Motherboards neben einem goldenen Löffel – ein Bild für die ein Prozent, die vom Abfall der 99 Prozent profitieren. 

Andere Werke verpacken Kritik in alltägliche Symbole. Abdullah Al Saadis aus Stein und Kunststoff geschnitzte Flip-Flops erinnern an dünne Sandalen, tragen jedoch die Schwere des Exils. Stéphanie Saadés Serie „Pyramid“ schichtet Kleidung von Baby- bis Erwachsenengrößen und reflektierte über Wachstum und abgelegte Identitäten. 

Der Biennale ist es gelungen, Trauer und Spiel miteinander zu verbinden, Raum für das Unsagbare zu schaffen. Wie die Messe vermeidet sie eine direkte Auseinandersetzung mit dem autoritären Kurs der Türkei, positioniert Istanbul stattdessen im Kontext globaler Prekarität und zeigt eindrucksvoll den künstlerischen Willen zu Ausdruck und Widerstand trotz der angespannten Lage. 

Zwei Steine mit Gummibändern, sodass sie Flip-Flops ähneln.
„Stone Slippers” von Abdullah Al Saadi. (Foto: İKSV | Sahir Uğur Eren)

Nach dem Besuch der Biennale holen meine Sammlerfreundin und ich uns in einer Gasse einen Kebab und gehen hinunter zu Galataport. Sie isst ihn gierig, hungrig nach mehr als nur dem Essen selbst – nach dem dem Lärm, der Lebendigkeit Istanbuls.  

Kurz bevor wir um die Ecke biegen, blickt sie auf und sieht einen Satz, den die Künstlerin Dilek Winchester in die Wand der Galerie 77 eingraviert hat, in lateinischen Buchstaben, verwoben mit arabischen, hebräischen, armenischen und griechischen Zeichen.  

Sie kann ihn nicht vollständig lesen. Später erfahren wir, was dort stand: „erscheinen-wie- diejenigen-die-eingebildet-sind-und-sich-benehmen-als-sei-noch-nie-etwas-vor-ihnen-gesagt-worden“. Bezieht sich das auf Istanbul, die Türkei, die Lage der Welt? Die Antwort darauf kennen vielleicht nur wir selbst. 

 

Dies ist eine Übersetzung des englischen Originals. Übersetzung: Annalena Heber. 

 

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