Ruhiger Blick auf ein zerrüttetes Fundament
Während das Kinopublikum in die Projektion auf der Leinwand eintaucht, werden die Protagonisten des Films jäh aus ihren Träumen gerissen: Ein Beben rüttelt die junge Frau mit den dunklen Locken und den Mann neben ihr aus dem Schlaf und zwingt sie, rasch das Haus zu verlassen. Die Kamera folgt ihnen und den anderen aufgescheuchten Nachbarn, die im Treppenhaus hektisch durcheinanderrufen.
Rana (Taraneh Doorosti) und Emad (Shahab Hosseini) sind ein junges Künstlerpaar aus der Teheraner Mittelschicht. Sie sind die Hauptfiguren in Asghar Farhadis Oscar-prämierten Gesellschaftsdrama "The Salesman", für das Asghar Farhadi bereits zum zweiten Mal die Oscar-Auszeichnung für den besten fremdsprachigen Film erhalten hat.
Erst der Blick aus dem Fenster gibt dem Zuschauer Gewissheit über die Ursache des Bebens: Zwei gelbe Bagger kreisen auf dem Nachbarsgrundstück und hieven tonnenweise Erde aus dem Fundament. Trotz der Erschütterungen am Nachbarhaus arbeiten die Maschinen unbeirrt weiter. Rana und Emads vertrautes Zuhause ist nunmehr unbewohnbar und entlässt sie in eine ungewisse Zukunft.
Der Zuschauer als Indiziensammler
Die Bleibe, die ihnen ein Bekannter wenig später vermittelt, wird ihnen schließlich zum Verhängnis: Ein Unbekannter überfällt Rana – ein Vorfall, der nicht ohne Folgen für die Beziehung des Paars bleiben wird. Das bis dahin harmonisch wirkende Paar driftet zunehmend auseinander. In der Zeit der Aufklärung des Verbrechens entfremden sich die Figuren – getrieben von ihren eigenen moralischen Ansprüchen.
Eine symbolhafte Sprache sowie subtile Dialoge der Protagonisten sind charakteristische Merkmale der Filme des namhaften Regisseurs. Der Zuschauer wird zum Indiziensammler, er observiert die Handlungen der Protagonisten, zieht seine Schlüsse und ist aufgefordert, ein eigenes Urteil zu fällen.
Farhadi proklamiert keine festgefahrenen Moralvorstellungen in seinen Filmen. Er möchte Diskurse anstoßen, deshalb lassen seine Geschichten Freiräume für Interpretation. Persönliche Interpretationen und Erfahrungen des Zuschauers sind nach Ansicht des iranischen Filmemachers auschlaggebend für die Deutung des Filmes. Bei "The Salesman" ist dies besonders prägnant. Jemand, der den Film als Gesellschaftskritik versteht, wird in ihm genauso Anhaltspunkte finden, wie jemand, der den Film als moralische Fabel auffasst.
Spannung wie in Hitchcock-Klassikern
Der 1972 in der Provinz Isfahan geborene Asghar Farhadi begann bereits mit 13 Jahren seine ersten Super-8- und 16mm-Filme zu drehen. Als einer der Jahrgangsbesten studierte er später an der Universität Teheran Theaterwissenschaften. Seine ersten Studienjahre verbrachte er mit der Lektüre von Theaterstücken; einflussreiche Autoren für seine Arbeiten waren vor allem Henrik Ibsen, Samuel Beckett und Harald Pinter.
Fahradis eigene Biographie schwingt auch in seinen Filme mit: Seit "Wednesday Fireworks", seinem dritten Kinofilm, kommen die Protagonisten mehrheitlich aus der urbanen Mittelschicht. Es ist das Milieu, dem der Regisseur entstammt und das er am authentischsten abbilden kann.
Einer seiner Lehrmeister war Abbas Kiarostami, von dem Farhadi den ruhigen Blick auf den Menschen adaptiert hat. Doch auch die Meisterwerke Hitchcocks beeinflussten ihn, um seine eigene Filmsprache zu entwickeln. Farhadis Filme zeichnen sich durch dramaturgische Spannungselemente aus, die an die Suspense- und Mystery-Effekte des britischen Regisseurs erinnern. Im Gegensatz zu Hitchcock legt Farhadi jedoch einen klaren Schwerpunkt seiner filmischen Arbeit auf die Handlungsweisen seiner Protagonisten. Diese gewähren dem Zuschauer Einblicke in ihre Innenwelten, ihre Widersprüche und Konflikte mit der Gesellschaft.
Psychogramm der iranischen Gesellschaft
In "The Salesman" drückt sich die Verwundbarkeit des Menschen in seinem gesellschaftlichen Kontext aus. In intimen Momenten werden die Protagonisten von Fremdeingriffen überrascht. Die Privatsphäre und selbst das Denken ist nicht vor diesen Überfällen geschützt. Im Kontext der iranischen Gesellschaft bildet sich eine Brüchigkeit ab, die in das Innere der Häuser vordringt und sich in den Gedanken der Menschen wiederfindet.
Somit kann der Film auch als ein Akt des Aufrüttelns verstanden werden: "The Salesman" übt subtile Kritik an der Einmischung des Staates in das Privatleben und appelliert somit an die iranische Bevölkerung, das eigene Gesellschaftsbild zu hinterfragen. Damit hält Farhadi dem iranischen Publikum den Spiegel vor. Asghar Farhadi begreift das Kino als einen Ort, der Fragen aufwerfen sollte und verhandelt in seinen Filmen die conditio humana.
Jasmin Astaki-Bardeh
© Qantara.de 2017