Die Rechtspionierin aus Gaza
Palästina hat eine seiner mutigsten Jurist:innen und feministischen Stimmen verloren. Am 22. September 2025 ist die Anwältin Islah Saied Mahmoud Hassniyyeh im Alter von 77 Jahren verstorben, eine Pionierin des palästinensischen Rechtswesens und Menschen- sowie Frauenrechtlerin. Ihr Leben stand im Zeichen von Gerechtigkeit und Menschenwürde.
Bis zum Ende selbstbestimmt, weigerte sich Hassniyyeh, die Überreste ihres Hauses in Gaza-Stadt, ihrer Stadt, zu verlassen - trotz des zu diesem Zeitpunkt intensiven israelischen Bombardements.
„Ich habe Vertreibung schon erlebt und will das nicht noch einmal“, sagte sie ihrem Umfeld. „Macht euch keine Sorgen, ich werde wahrscheinlich in Gaza sterben“.
Die Weigerung zu gehen war ein letzter Akt des Widerstands, der ihr ganzes Leben prägte.
Verteidigung der Schwächsten
Hassniyyeh, geboren am 29. Oktober 1949 in Gaza-Stadt, hat palästinensischen Frauen viele Hindernisse aus dem Weg geräumt. 1975 erhielt sie ihr Jura-Examen von der Ain-Shams-Universität in Kairo – zu einer Zeit, in der es sehr wenige Frauen in der palästinensischen Justiz gab.
Zurück in Gaza lernte sie beim anerkannten Menschenrechtsanwalt Faraj al-Sarraf und eröffnete 1978 die erste von einer Frau geführte Anwaltskanzlei im Gazastreifen. Dieser Schritt in das männerdominierte Rechtswesen war eine mutige Konfrontation mit tief verwurzelten gesellschaftlichen Normen.
Doch Hassniyeh hatte nicht nur Recht studiert, sie praktizierte und lebte Recht, verwandelte es in ein Werkzeug des Widerstands und des Empowerments. Ihre Entschlossenheit legte den Grundstein für künftige Generationen von Anwältinnen in Palästina.
Von Beginn an hatte sich ihre Karriere auf die Verteidigung vulnerabler Gruppen konzentriert, unter anderem politische Gefangene und von Unterdrückung betroffene Frauen. In den 1970er und 80er Jahren vertrat sie palästinensische Gefangene in israelischen Gefängnissen, auch solche, die im Nafha-Gefängnis in der Negev-Wüste festgehalten wurden. Dabei arbeitete sie mit prominenten israelischen Anwält:innen wie Felicia Langer zusammen. Für diese Arbeit verlangte sie kein Gehalt, sie handelte aus Überzeugung und empfand die Arbeit als nationale Pflicht.
Hassniyeh war auf Scharia- und Zivilrecht spezialisiert. 2002 wurde sie als erste Frau lizenziert, um vor Scharia-Gerichten im Gazastreifen verhandeln zu dürfen. Auch männliche Anwälte hatten in diesem Bereich oft zu kämpfen, doch Hassniyyeh setzte sich als Frau durch. Oft war sie die einzige Frau im Gerichtssaal und auch die einzige Person, die sich für jene einsetzte, die die Gesellschaft verstoßen hatte.
Die feministische Visionärin
Hassniyyeh war mehr als nur Juristin: Sie war eine Feministin, die sich ihr Leben lang unermüdlich dafür einsetzte, Frauen über ihre Rechte aufzuklären. Besonders rund um die Themen Erbe, Scheidung und das Personenstandsgesetz.
„Wir behandeln Anwältinnen immer noch so, als gehörten sie nicht in den Gerichtssaal“, sagte Hassniyyeh einmal. „Als ob die Verteidigung von Rechten körperliche und nicht intellektuelle Stärke erfordern würde.“
Sie sprach öffentlich über die sozialen Ängste, die Frauen zum Schweigen brachten: die Angst, von der Familie verstoßen zu werden. Die Angst vor Gewalt oder davor, als „zu mutig“ abgestempelt zu werden.
Sie wies wiederholt darauf hin, dass es sehr wohl Gesetze zum Schutz der palästinensischen Frauen gebe. Diese würden jedoch selten angewandt, insbesondere angesichts der israelischen Besatzung, politischer Spaltung und wirtschaftlicher Schwierigkeiten.
Hundert Jahre arabischer Feminismus
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2002 ließ sich Hassniyyeh bei den Wahlen zur Palästinensischen Anwaltskammer aufstellen – und gewann, trotz starken politischen Gegenwindes. Damit wurde sie auch zur ersten Frau, die in die Kammer gewählt wurde. Ihr Sieg schuf einen Präzedenzfall und mündete in eine dauerhafte Frauenquote in der Gaza-Abteilung des Verbandes.
Als Schatzmeisterin setzte sie sich für Reformen, Rechenschaftspflicht und professionelle Standards ein. Dabei kämpfte sie dafür, ruhende Ausschüsse zu aktivieren, Anwält:innen an der Basis zu unterstützen und den Verband integrativer und transparenter zu machen. Über ein Jahrzehnt lang gehörte sie der Kammer an, dann trat sie zurück, um Platz für jüngere Kolleg:innen zu machen.
Hassniyeh war zudem Mitglied des Rechtsausschusses der Allgemeinen Union Palästinensischer Frauen (GUPW). Nachdem die Hamas nach ihrem Sieg bei der Parlamentswahl 2006 die Kontrolle über die Büros der Union übernahm, fürchteten Hassniyeh und ihre Kolleginnen eine Einschränkung der Frauenrechte. Um ihre Unabhängigkeit zu bewahren, gründeten sie das Frauenzentrum für Rechtsberatung und Rechtsschutz (CWLRCP).
Das Zentrum, das als NGO registriert ist, wurde zu einer wichtigen Anlaufstelle für Frauen, die rechtlichen Beistand suchten, und zu einer Ausbildungsstätte für palästinensische Jurist:innen. Es bot Rechtsberatung und Fortbildungsprogramme für Frauen an und unterrichtete junge Jurist:innen, insbesondere Frauen, in Rechtspraxis und feministischer Rechtswissenschaft.
„Das Gewissen des Gesetzes“
Gegen Ende ihres Lebens, als die Stadt Gaza dem intensivsten Bombardements ihrer Geschichte ausgesetzt war, wurde Hassniyyehs Haus schwer beschädigt. Sie floh nach Süd-Gaza, wo sie in Zelten lebte.
Ihre lebenswichtigen Medikamente für ihren Diabetes und Bluthochdruck hatte sie nicht mehr. Als im Januar 2025 eine Waffenruhe verkündet wurde, kehrte sie zurück nach Gaza-Stadt und bestand darauf, in den Ruinen zu leben. Eine erneute demütigende Flucht schloss sie aus.
Zwar wurde ihr eine andere Unterkunft angeboten, doch sie war fest entschlossen: „Solange noch Wände stehen, lebe ich in ihnen." Ein Zimmer wurde für sie renoviert, eine Pflegerin eingestellt.
Doch ihre Gesundheit verschlechterte sich rapide. Wegen der israelischen Blockade fehlte es an Nahrungsmitteln und Medikamenten. In ihren letzten Tagen glitt sie, umgeben von Trümmern, in ein Koma und verstarb im Krankenhaus.
Das ganze Leben in nur einer Tasche
Die israelische Offensive in Gaza hat tausende Menschen mehrfach vertrieben. Viele von ihnen haben nur eine Tasche dabei. Darin: Ausweispapiere, einige persönliche Gegenstände und Erinnerungen an ihr altes Leben.
Mit Hassniyyeh hat Palästina eine juristische Pionierin, eine kämpferische Feministin und ein Symbol des unerschrockenen Mutes verloren. Doch ihr Erbe lebt weiter: in den jungen Frauen, die sie ausgebildet hat, den rechtlichen Institutionen, die sie mit aufgebaut hat, in den Gesetzen, deren Reform sie durchgesetzt hat, und in den Generationen an Jurist:innen, für die Hassniyyehs Tapferkeit Inspiration ist.
Die palästinensische Anwaltskammer, das Frauenzentrum CWLRCP und unzählige Kolleg:innen betrauern den Verlust und, wichtiger, halten Hassniyyehs reiches Erbe in Ehren.
Hassniyyeh starb, wie sie lebte: unter ihren eigenen Bedingungen, in ihrem eigenen Zuhause, ohne sich vertreiben, zum Schweigen bringen oder vergessen zu lassen. Ihr Leben erinnert uns, dass Gerechtigkeit nicht nur in Gerichten verhandelt wird; es ist ein Prinzip, nach dem gelebt, für das gekämpft und das verteidigt werden muss.
Hassniyyehs Lebensgeschichte erzählt nicht nur von professionellem Erfolg, sondern auch von persönlichen Opfern und feministischem Widerspruch. Ihr Erbe wird weitere Generationen von Anwält:innen, von Frauen und von Palästinenser:innen prägen.
„Sie war nicht nur Anwältin“, sagte eine Kollegin einmal, „sie war das Gewissen des Gesetzes in Gaza.“
Anmerkung: Dr. Riham Halaseh ist Leiterin des Programms für Demokratie und Menschenrechte im Büro der Heinrich-Böll-Stiftung für Palästina und Jordanien in Ramallah. Sie arbeitete im Rahmen der Partnerschaft der Stiftung mit lokalen Organisationen in Gaza mit Islah Hassniyyeh zusammen.
Dieser Text ist eine bearbeitete Übersetzung des englischen Originals. Übersetzt von Clara Taxis.
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