Angst vor Veränderung
Der Rat des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan an die Ägypter, eine Verfassung zu schaffen, welche auf den "Prinzipien des Säkularismus und der Achtung aller Religionen beruht und jedem Einzelnen die Freiheit der Ausübung seiner Religion gewährt", hat die Islamisten und Salafisten in Ägypten wohl sehr erbost.
Doch die Lektion, die der türkische Ministerpräsident den arabischen Islamisten in Sachen Säkularismus und Zivilstaat während seines letzten Besuchs in Kairo in einem Fernsehinterview erteilte, kam durchaus zur rechten Zeit. Denn auch nach dem Arabischen Frühling gilt den meisten engstirnigen arabischen Islamisten nach wie vor der Säkularismus perse als "Bruder des Unglaubens" und "Feind der Religion".
Dieser von ihnen aufs Heftigste angefeindete Säkularismus ist bisher in keinem arabischen Land in der Weise eingeführt worden, wie dies in der Türkei geschah, wo Atatürks Militär seine radikalste Form wählte. Man sollte demzufolge annehmen, dass der politische Islam in der Türkei als entschiedener Gegner zum Säkularismus auftritt, wurde er doch von dessen Radikalität aufs Empfindlichste getroffen.
Doch ausgerechnet dort etablierte sich der von Reife geprägte Kurs moderner türkischer Islamisten, der sie befähigte, das tatsächliche Wesen des gemäßigten Säkularismus zu erkennen – ein Säkularismus, der die Religion weder zum Feind abstempelt noch ihre Erscheinungsformen im Herzen der Menschen, in den Gotteshäusern oder das Kopftuch verfolgt.
Alles, was der Säkularismus im Grunde will, ist die private Religionsausübung zu Hause, in den Gebetsstätten und bei religiösen Anlässen, nicht aber, dass die Religion den öffentlichen Raum, insbesondere die Politik, beherrscht und lenkt und dadurch zum Ungeheuer wird, das die Freiheit der Anderen unterdrückt.
Die selektive islamistische Lesart der Geschichte
Abgesehen von den Beschränkungen für das Tragen des Gesichtsschleiers ("Niqab"), der in einigen europäischen Ländern wegen seines gelegentlichen Missbrauchs gesetzlich verboten wurde, garantiert das säkulare Recht den Muslimen dort die Ausübung ihrer religiösen Riten. Hätte Europa eines der Konzepte für einen religiösen Staat, wie ihn die arabischen Islamisten für ihre Länder fordern, in die Realität umgesetzt, dann wäre für die 40 Millionen Muslime im Westen das Leben wirklich zur Hölle geworden.
Man könnte dem entgegenhalten, dass der Säkularismus nun einmal zum Westen passt, ist er doch die Lösung für den Konflikt zwischen Kirche und Politik – wohingegen ein solcher Konflikt in der Kultur, der Lebensweise und der Geschichte des Islam unbekannt ist, wie gemeinhin angenommen. Doch das ist historisch falsch. Es ist die rührselige und selektive islamistische Lesart der Geschichte. Tatsächlich wurden Politik und gesellschaftliches Leben im Islam seit den ersten rechtgeleiteten Kalifen allmählich aber stetig säkularisiert.
Der verbissene Streit um die Führung des Kalifats war eine politische, keine religiöse Auseinandersetzung. Während der drei historischen Epochen, in denen Macht und Kultur der Muslime ihren Höhepunkt erreichten, erlebten die politische Praxis und das Handeln der Führungsschicht eine fast vollständige Säkularisierung.
Der Islam war nach innen die allgemeine Form und verbindende Identität, so wie z.B. das Christentum nach innen die allgemeine Form und verbindende Identität Großbritanniens mit der Königin als Kirchenoberhaupt ist. Gleichzeitig aber waren die tragenden Säulen der Politik, der Staatsverwaltung und des gesellschaftlichen Lebens in starkem Maße säkularisiert.
Dank dieser islamischen Säkularisierung und der vorbehaltlosen Öffnung zugunsten der Wissensaneignung und Kreativität aller Individuen, entwickelten sich die Wissenschaften, gab es Fortschritt und die oft und gerne in der islamischen Welt zitierte Überlegenheit.
Säkularismus heißt nicht Religionsfeindlichkeit
Wenn also die heutigen Islamisten auf die "islamische Zivilisation" und das "goldene islamische Zeitalter" verweisen, beziehen sie sich auf diverse Kopien des "Erdoganschen Säkularismus-Modells", der von den damaligen muslimischen Führern in dieser oder jener Form eingeführt wurde, auch wenn der Begriff "Säkularismus" an sich noch gar nicht bekannt war.
Hätten sich die Omayyaden, die Abbasiden oder auch die Muslime in Andalusien dem Modell beispielsweise der Muslimbrüder oder der Salafisten mit ihrem engstirnigen und dogmatischen Verständnis von Politik, Staat und Gesellschaft bedient, hätte es bei den Muslimen gewiss keinen Fortschritt gegeben und sie hätten nicht das erreicht, was sie erreicht haben.
Erdogan hat den Islamisten in Kairo mitgeteilt, dass der Staat sich nicht in die Religion der Menschen einzumischen habe und zu allen Religionen denselben Abstand halten solle. Er müsse säkular sein, wobei Säkularismus nicht Religionsfeindlichkeit bedeute, sondern der Garant für die freie Religionsausübung aller sei. Der Staat, den die arabischen Islamisten im Sinn haben, ist ein religiöser Staat, der jedem Individuum die Religion aufzwingt und natürlicherweise nur eine einzige Auslegung der Religion kennt.
Welcher der von den heutigen Muslimbrüdern oder Salafisten vorgeschlagenen islamischen Staaten würde denn die völlige Freiheit der anderen Religionen und Überzeugungen, wie Christentum, Judentum, Hinduismus oder Sikhismus akzeptieren? Welche dieser Staaten würden den islamischen Konfessionen, die den jeweils herrschenden Islamisten nicht passen, wie z.B. den diversen schiitischen Schulen, den Ismailiten, der Bahai-Religion, der Ahmadiyya-Bewegung usw., Freiheit und Sicherheit gewähren?
Ist es nicht eine Schande, dass im Westen unter den Bedingungen des Säkularismus die Muslime aller Konfessionen in Frieden und gegenseitiger Achtung miteinander leben, während sie in jedem ihrer islamischen Länder daran scheitern, sozialen Frieden zu schaffen und sich gegenseitig zu achten?
Der erfolgreiche Weg der türkischen Islamisten
Der Islam Erdogans in der Türkei, aber auch das malaysische und das indonesische Vorbild, bieten Modelle an, die sich von dem unterscheiden, was die arabischen Islamisten im Sinn haben. Sie können jedoch nicht als Rechtfertigung für Überlegungen dergestalt dienen, dass das Problem im arabischen Kontext, in der Kultur der Araber oder deren Verständnis vom Islam liegen könnte, denn auch der iranische und der pakistanische Islam sind gescheitert.
Der Kurs der türkischen Islamisten war dagegen erfolgreich, da er sich die wichtigen historischen Lehren über die Politik des Staates und der Gesellschaft und die Einsicht in die Prioritäten zueigen machte. Dieses Bewusstsein spiegelte sich in der Entstehung und Gründung der AKP wider, als man auf die von den Muslimbrüdern vertretenen, traditionellen Positionen verzichtete, für die Necmettin Erbakan jahrzehntelang stand, mit denen er aber an der Aufgabe, den türkischen Staat zu führen, letztlich gescheitert war.
Als die AK-Partei zu Beginn des Jahrtausends entstand, modernisierte sie alle ihre Konzepte, nahm in ihr Programm den gemäßigten Säkularismus auf und richtete den Blick auf die wirklichen Prioritäten für den türkischen Staat und dessen Gesellschaft, indem sie mit der Wirtschaft begann und auch alle anderen Schichten der Gesellschaft zufrieden stellte. Um die Partei sammelten sich konservative Unternehmer, Technokraten und andere, rechts von der Mitte stehende Kräfte, wobei nicht alle Gruppen besonders religiös geprägt waren.
Doch gingen ihre Fähigkeiten eine Symbiose mit den positiven praktischen Werten der Religion ein – wie z.B. Lauterkeit, Zuverlässigkeit und seriöses Arbeiten, für die Erdogan und seine Gruppe standen und die sie in der kommunalen Verwaltung beherzigten. Die türkische Wirtschaft erholte sich, denn vor allem anderen stand sie im Mittelpunkt der politischen Bemühungen. So avancierte die Türkei zu einem "ökonomischen Tiger", der es durchaus mit den größten Wirtschaftsnationen der Welt aufnimmt.
Doch würde Erdogan genau wie die arabischen Islamisten primär Themen wie das Tragen von Kopftüchern, das Verbot von Bikinis oder das Wasserpfeiferauchen von Frauen beschäftigen, dann hätte er heute mit seiner Politik gewiss auf ganzer Linie versagt.
Khaled Hroub
© Qantara.de 2011
Übersetzung aus dem Arabischen von Gert Himmler
Dr. Khaled Hroub ist Direktor des Cambridge Arab Media Project (CAMP) am Centre of Middle Eastern and Islamic Studies (CMEIS) der Universität Cambridge. Der bekannte Publizist schreibt für führende arabische Tageszeitungen wie Al-Hayat und Al-Bayan, er moderierte Sendungen auf Al-Jazeera TV. Zuletzt erschien sein Buch "Hamas. Die islamische Bewegung in Palästina" im Heidelberger Palmyra-Verlag.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de