Ausweg Säkularismus

Der bekannte saudische Soziologe und Al-Hayat-Kolumnist Khalid al-Dakhil analysiert in seinem Essay den Stellenwert von Säkularismus und Islam im historischen Kontext.

Von Khalid al-Dakhil

In der religiös-politischen Kultur der Araber war der Säkularismus stets gleichbedeutend mit Atheismus und einem Mangel an religiösem Glauben. In der abendländischen Kultur jedoch, die am Säkularismus festhält, wird dies überhaupt nicht so gesehen. Eine der Folgen dieses Kontrastes ist, dass die Muslime in den Säkularismus eine Bedeutung projizieren, die dieser nicht nur nicht besitzt, sondern die auch nicht mit den ideologischen Voraussetzungen des Begriffs übereinstimmt.

Bisweilen wird in der islamischen Welt behauptet, dass Menschen aus dem europäischen Kulturkreis, die an das Konzept des Säkularismus glauben, dies mit der Tatsache begründeten, dass das Neue Testament verzerrt worden sei, wodurch sich das Christentum von seiner ursprünglichen Bedeutung, der Wahrheit oder der Rolle, die Gott ihm ursprünglich zugedacht hatte, entfernt habe. Und dies sei auch der Grund dafür gewesen, warum Europa in das "dunkle Zeitalter" gefallen sei, aus dem es nur durch den Säkularismus befreit werden konnte.

Dahinter steckt ein gewisses Paradox, denn wenn es der Säkularismus war, der den Westen aus dem "dunklen Zeitalter" in die Aufklärung geführt hat, und wenn Säkularismus gleichzeitig Atheismus und mangelnder religiöser Glaube bedeutet, war es folglich also nicht der Glauben, sondern der Atheismus und der Mangel an Glauben, der den Weg aus der Dunkelheit der Unwissenheit, Rückwärtsgewandtheit in das Zeitalter der Erkenntnis und Freiheit geführt hat. Doch hält eine solche Auffassung einer näheren empirischen Analyse wirklich stand?

Begrenzte Interpretationsfelder

Es stellt sich eine weitere Frage: Wenn Muslime den Säkularismus mit einem Mangel an religiösem Glauben gleichsetzen, beurteilen sie das Konzept dann anhand doktrinärer und islamrechtlicher Kriterien, so wie diese von Muslimen verstanden werden? Oder beurteilen sie es anhand christlicher Normen und Werte, so wie sie von den Christen verstanden werden?

Nehmen sie doktrinäre und rechtliche Kriterien des Islam als Grundlage, ist ihr Verständnis des Säkularismus und der damit verbundenen doktrinären Abweichungen durch die Interpretationsgrenzen eingeschränkt, die von den Muslimen akzeptiert werden – also mehrheitlich durch den Koran und die Traditionen des Propheten. Aufgrund solcher kultureller Grenzen und im Rahmen des kognitiven Relativismus ihrer Vertreter wird der Säkularismus durch diese Interpretation Kriterien und Schlussfolgerungen unterworfen, die außerhalb seines eigenen historischen, kulturellen und intellektuellen Kontextes liegen.

"Säkularismus - alle Rechte vorbehalten" - Tunesierin auf einem "Ennahda"-Parteitag in Tunis; Foto: source: www.ncr.sy
"Säkularismus - alle Rechte vorbehalten": Es kann behauptet werden, dass der "Säkularismus" die Formel ist, die sowohl im Westen als auch im Osten als modernes staatliches Konzept überdauert hat, schreibt Khaled al-Dakhil.

In der Tat beginnt hier der Trugschluss: beim Treffen einer Wertentscheidung über eine bestimmte kulturelle oder historische Erfahrung, die auf Kriterien beruht, welche zu einer völlig anderen Kultur und historischen Erfahrung gehören. Dies ist mit Empirismus völlig unvereinbar. Mit anderen Worten ist die so getroffene Analyse und Schlussfolgerung nicht empirischer, sondern religiöser Natur. Und als solche spiegelt sie kulturelle und ethische Vorurteile gegen eine andere Kultur und andere ethische Werte wider.

Die Bibel als Gegenstand zweier gegensätzlicher Lesarten

Wollen wir den Säkularismus auf der Grundlage der christlichen Heilslehre oder der Kriterien des christlichen Rechts bewerten, sollte man bedenken, dass die Bibel, die im "dunklen Zeitalter" dahingehend interpretiert wurde, dass sie die göttliche Zustimmung zu Allianzen zwischen Kirche und Staatsmacht erteilte, dasselbe Buch ist, das später keinerlei Grundlage zur Stigmatisierung des Säkularismus als Atheismus oder mangelnden religiösen Glauben bot.

Dies bedeutet, dass die Bibel Gegenstand zweier gegensätzlicher Lesarten war, die jeweils zu einer anderen Zeit und historischen Ära gehörten. Welche dieser beiden Lesarten ist nun aber richtiger und näher an der Logik der Ereignisse und der Geschichte? Es ist die spätere, die auf dem Prinzip beruht, dass ein Text nicht auf eine einzige Interpretation beschränkt werden kann. Das wirft ein Schlaglicht auf die Akzeptanz vielfältiger Lesarten. Während des "dunklen Zeitalters" wurde dieses Prinzip nicht anerkannt, und die Mehrheit in der heutigen islamischen Welt erkennt dies noch immer nicht an.

Säkularismus als modernes Staatenkonzept in Ost und West

Dies wirft eine weitere Frage auf: Ist die Trennung der Religion vom Staat oder der Politik ein Thema, das nur in der westlichen oder nichtislamischen Geschichte auftaucht? Oder ist es ein soziopolitisches Thema, das in unterschiedlichen Formen in jeder Gesellschaft auftritt und damit deren individuelle historische Ausprägung widerspiegelt?

Es kann behauptet werden, dass der "Säkularismus" die Formel ist, die sowohl im Westen als auch im Osten als modernes staatliches Konzept überdauert hat. Ein solcher "Säkularismus" ist allerdings nur eine von mehreren Arten, mit diesem Thema umzugehen. Daher kann festgestellt werden, dass dieses Konzept für westliche oder nichtislamische Gesellschaften typischer ist als für andere, insbesondere islamische Gesellschaften.

Als Ergebnis ist festzuhalten, dass kein Aspekt der westlichen Erfahrung, des daraus entstandenen Säkularismus oder der spezifischen Art dieser Erfahrung zu der Schlussfolgerung führen muss, dass die Trennung der Religion vom Staat oder die Unterscheidung zwischen dem Religiösen und dem Politischen in anderen – islamischen – Gesellschaften nicht auftritt oder in deren Geschichte keine Bedeutung hat.

Saudi analyst Khalid al-Dakhil (photo:   )
Khalid al-Dakhil is an academic who works at King Saud University in Riyadh as assistant professor of political sociology. He is also a well-known Saudi political analyst who has written several books on Wahhabism and the relationship between Islam and secularism

Natürlich ist es kein Geheimnis, dass eine solche Hypothese in der arabischen Welt durchweg abgelehnt wird. Die Türkei hingegen, die seit über zehn Jahren von einer islamistischen Partei, der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) regiert wird, hat bereits vor Jahrzehnten den Säkularismus akzeptiert – und die islamistische Mehrheit dort scheint sich heute mit ihm abgefunden zu haben.

Anscheinend sieht die AKP zwischen dem Islam und dem Säkularismus keinen Widerspruch. Tatsächlich glaubt sie an die Möglichkeit, den konzeptionellen Graben zwischen ihnen zu überbrücken.

Und all dies geschieht trotz der Tatsache, dass Atatürk ursprünglich mit Gewalt seine eigene, extreme Form von Säkularismus durchgesetzt hatte – einen Säkularismus, der sich deutlich von demjenigen unterscheidet, der beispielsweise in den Vereinigten Staaten praktiziert wird.

Allianz zwischen Säkularisten und Islamisten

Tunesien seinerseits scheint sich in die gleiche Richtung zu bewegen, auch wenn das Land immer noch in den Geburtswehen der nachrevolutionären Veränderungen steckt. Rachid al-Ghannouchi, Generalsekretär der tunesischen "Ennahda"-Bewegung, hatte nicht ohne Grund betont, dass jedes nachrevolutionäre Regierungssystem des Landes auf einer Allianz zwischen Säkularisten und Islamisten aufbauen müsste.

Das tunesische Experiment steckt immer noch in den Kinderschuhen, und bis wir sehen können, wie dauerhaft diese neue Ordnung ist, müssen wir wohl noch eine gehörige Zeit abwarten – insbesondere in Bezug darauf, wie stark die "Ennahda"-Bewegung an dieses Arrangement glaubt und wie sehr sie sich gegenüber dessen Legitimität und Notwendigkeit verpflichtet fühlt.

In diesem Zusammenhang müssen wir uns an die bekannte Aussage erinnern, dass der "Islam eine Religion und ein Staat" ist und, berühmter noch, dass es im Islam "keine Priesterschaft gibt". Beide legen nahe, dass es die christliche Priesterschaft und ihre Dominanz war, die den Westen schließlich dazu veranlasste, den Säkularismus als Ausweg zu wählen.

Khalid al-Dakhil

© Qantara.de 2016

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff