Der Schelmendichter aus Bagdad
Bagdad im 11. Jahrhundert: Eine prosperierende Metropole, ein Sammelpunkt für Theologen, Philosophen, Kaufleute, Künstler. Mittendrin: Der wohlhabende Kaufmann Ibn Naqiya (1020 - 1092), über dessen Leben wir wenig wissen. Wohl aber wissen wir, dass er auch Dichter war. Ein Teil seiner Texte ist erhalten – und im Zentrum seines Werkes stehen die "Zehn Verwandlungen", die Makamen um den subversiven Schelm Al-Yaschkuri, ein gewitzter Lebemann, dem nichts eine größere Freude ist, als all die Gaukler und Doppelmoralisten seiner Zeit zu entlarven, den pseudofrommen Opportunisten ihre Maske zu entwenden, nicht selten im Rückgriff auf den Koran.
Gehoben und ins Deutsche übertragen hat diesen Schatz der Bonner Islamwissenschaftler Stefan Wild. Unter dem Titel "Moscheen, Wein und böse Geister" liegt er nun in der verdienstvollen Neuen Orientalischen Bibliothek bei C. H. Beck vor.
Die Makame, eine gereimte Schelmenprosa, ist eine klassische arabische Literaturform, die ursprünglich von Al-Hamadhani (968 – 1007) begründet und von Friedrich Rückert auch in Deutschland bekannt gemacht wurde. "In ihrem Mittelpunkt", schreibt Stefan Wild in seiner umfangreichen Einleitung, "steht meist ein listenreicher und sprachgewandter pikaresker Held, der ebenso gut als Antiheld durchgehen könnte".
Als Bettler, Prediger oder Gelehrter durch die Lande
Mithilfe seines geschliffenen Sprachwitzes, seiner Verschlagenheit und seiner stets neuen Verwandlungen schlägt er sich durch eine unwirtliche Welt. Als Bettler oder Prediger, als frommer Moscheebesucher, Gelehrter oder Prophet verkleidet zieht er durch die Lande.
Dabei ist jede Makame jeweils aus der Perspektive von Al-Yaschkuris "Opfer" erzählt, das dem Schelm in einer seiner vielen Verkleidungen, also Verwandlungen, begegnet, und erst wenn er rhetorisch obsiegt oder sich das Objekt seines Begehrens unter den Nagel gerissen hat, wird er als Al-Yaschkuri erkannt.
Während die Literatur jener Zeit in der Regel eine fiktive und an den moralisch-religiösen Grundsätzen orientierte, überhöhte Scheinrealität darstellte, Herrschern ebenso wie Geistlichen huldigte, drehen die Makamen den Spieß um, sind wie die niedere Minne daran interessiert, die Welt und die Menschen so darzustellen, wie sie sind, was nicht selten bedeutet, eben jene religiösen und moralischen Imperative über Bord zu werfen oder zu entlarven.
Dass das nicht nur für Beifall sorgte, versteht sich von selbst. So findet sich laut Stefan Wild an den Rand des Originalmanuskripts gekritzelt folgende Bemerkung eines anonymen Autors: "Der Verfasser hat nichts erwähnt, was zur Sprachwissenschaft oder zur feinen Bildung gerechnet werden könnte. Er zeigt so allerdings nur den Mangel an wahrer Bildung." Und das war wohl längst nicht das einzige Mal, dass Ibn Naqiya, auch zu Lebzeiten, angefeindet wurde.
Auftritt als grausig holpriger Möchtegerndichter
Tatsächlich sind die Streiche und Stiche, die Hinterlistigkeiten und Geschichten Al-Yaschkuris erstaunlich modern, was nicht zuletzt Stefan Wilds Übersetzung zu verdanken ist. Nach eigener Aussage hat er sich stilistisch an Rückert ebenso wie an Robert Gernhardt orientiert. Und wenn Al-Yaschkuri in der Dichter-Makame als grausig holpriger Möchtegerndichter auftritt und damit eine feine Gesellschaft sprengt, denkt man zwangsläufig auch an die Texte des Lyrikers Axel Kutsch. So heißt es in dieser Makame:
Dann fuhr er fort, poetisch zu holpern
und durch das Versmaß dahinzustolpern.
Das Metrum des langen Gedichts war verfehlt,
die Reime ohrenpeinlich gequält.
In der Bagdad-Makame wiederum gibt er sich bei einer anderen feinen Gesellschaft als blinder Bettler aus, erbittet Einlass und Almosen unter Zuhilfenahme von Koranverweisen, was ihm schlussendlich gelingt. Als die gefoppten begreifen, dass Al-Yaschkuri keineswegs blind und arm ist, ist es längst zu spät, denn er hat sich schon Bauch und Taschen gefüllt:
Da rief ich: "Verfluchter Lügenbold!
Du hast uns glauben machen gewollt,
dass Gott dir deine Sehkraft genommen.
Doch kerngesund bist du hierher gekommen.
Dir fehlt an deiner Gesundheit nichts,
und nichts an der Kraft deines Augenlichts!"
Da lächelte er und sagte geschwind:
"Sei zufrieden, dass ich nur im Herzen blind
und mein Hintern niemals Ruhe find't."
Einblicke in die Zeit des Ibn Naqiyas
Ob Weingenuss und Weinverbot, ob Geiz und Gier, ob Kunst, Macht oder Religion, ob Knabenliebe oder Musik, Ibn Naqiya macht vor nichts Halt. Man darf durchaus annehmen, dass diese Texte heute in manch fundamentalistisch-religiösen Kreisen auf nicht weniger Ablehnung stoßen dürften, als sie es damals taten (was abermals ihre Aktualität bezeugt). Und so geben uns diese thematisch breit gefächerten, höchst kunstvollen und nicht zuletzt unglaublich lustigen Prosagedichte auch Einblicke in Ibn Naqiyas Zeit, Gesellschaft und Lebensumstände, wie es viele andere Verse oder auch Aufzeichnungen aus dem Bagdad des 11. Jahrhunderts kaum vermögen.
Wer sich nicht vorstellen kann, dass es ein Hochgenuss ist, einen neunhundert Jahre alten Dichter zu lesen, darf sich in diesen "Zehn Verwandlungen" eines Besseren belehren lassen. Diese Verse sind nicht nur für die Literatur- und die Islamwissenschaft ein Juwel, sondern eben auch für jeden Leser heute. Und es ist eine Entdeckung, die erahnen lässt, dass diese Schatztruhe der klassischen arabischen Poesie noch viel für uns bereithält, das gefunden und übersetzt werden will.
Gerrit Wustmann
© Qantara.de 2020
Ibn Naqiya: "Moscheen, Wein und böse Geister. Zehn Verwandlungen", Neue Orientalische Bibliothek, Verlag C . H. Beck 2019, aus dem Arabischen übertragen, eingeleitet und erläutert von Stefan Wild, 140 Seiten, ISBN: 9783406739446