Die Unübersetzbarkeit des Heiligen

Die Fortschritte der Künstlichen Intelligenz (KI) prägen unsere Gegenwart auf tiefgreifende Weise. Während sie in der Medizin, Industrie und Kommunikation längst zur Realität geworden ist, dringt die KI zunehmend auch in Sphären vor, die lange als exklusiv menschlich galten: Kunst, Poesie, Ethik, Philosophie – und Religion.
Was bedeutet es, wenn KI-Systeme beginnen, religiöse Inhalte zu „verstehen“, zu übersetzen, gar theologisch zu deuten? Welche Chancen, aber auch welche Gefahren birgt die Anwendung von Künstlicher Intelligenz für muslimisches Leben, etwa bei der Koranübersetzung oder in Fragen der Gotteserkenntnis?
Die Frage nach KI und Islam ist dabei mehr als nur eine technische. Es geht um Grundfragen: Wie lässt sich der Koran überhaupt übersetzen? Was bedeutet religiöses Verstehen? Und wo stößt maschinelle Nachahmung an ihre Grenzen?
Übersetzen heißt: sich verhalten zur Wahrheit
Tatsächlich kann man den Koran mithilfe der generativen KI-Anwendungen in eine beliebige Sprache übersetzen lassen. Die KI greift dafür auf bestehende Übersetzungen zurück – insofern sie digitalisiert vorliegen – und kann darauf basierend eine Variation von ihnen anbieten, im Stil einer Dichterin oder eines Dichters den Koran übersetzen etc. Doch so beeindruckend diese Technologien auch sein mögen – sie berühren nicht nur eine religiös-theologische, sondern auch eine wissenschaftliche Grenze.
Übersetzen ist mehr als sprachliche Übertragung. Es ist eine existentielle Geste der Aufmerksamkeit – nicht bloß Transfer, sondern Haltung. Eine Haltung zum Original, zur Wahrheit, zur Sprache. Eine authentische Übersetzung des Korans muss nicht nur den semantischen Gehalt des Wortes erfassen (mit der vereinfachenden Fragegeste: Was steht hier?), sondern zugleich die geistige Atmosphäre, die rhythmische Struktur und die historische wie metaphysische Tiefendimension berücksichtigen.
Denn der Koran ist nicht bloß eine Mitteilung. Er ist eine Rede, die sich im Modus der Offenbarung vollzieht – poetisch, lakonisch, fragmentarisch –, mit intratextuellen Bezügen und intertextuellen Bezügen zu Tora und Evangelien. Er spricht den Menschen an, indem er Gottes Wort in menschlichen Worten darstellt. Der Koran ist nicht nur in seiner Sprache verankert, sondern auch in seiner Zeit.

Der Hadsch als Vision für interreligiöse Solidarität
Wenn sich Muslime der Kaaba als gemeinsamem Mittelpunkt zuwenden, werden sie an ihre heilige Bindung zur Menschheitsfamilie als ganzer und an ihre besondere Beziehung zu den anderen abrahamitischen Religionen erinnert.
Die Offenbarung trägt die Spuren des 7. Jahrhunderts, den Lebenskontext des Propheten Muhammad, ebenso wie den Anspruch eines zeitlosen Wortes, das im ewigen Willen Gottes gründet. Wer ihn übersetzt, muss sich einer dreifachen Dimension stellen: der historischen Kontextualisierung des Textes, dem eigenen komplexen Kontext und dem Anspruch des Textes selbst, Gottes ewiges Wort zu sein.
Hinzu kommt, dass der Koran selbst mit Unklarheiten arbeitet. Manche Dinge werden nicht ausgesprochen. Andere erscheinen verdichtet, lakonisch, mit feinen Bedeutungsverschiebungen, die sich erst im intertextuellen Verhältnis zur Bibel oder aus dem historischen Kontext erschließen. Der Koran spricht nicht nur, er schweigt auch – in bedeutungsvollen Pausen.
Er ist in Reimprosa verfasst. Seinen Klang, sein Rhythmus, sein innerer Takt schaffen einen Resonanzraum, der durch die Rezitation gestiftet wird – nicht nur für das Ohr, sondern für das Herz. Inhalt und Form sind im Koran untrennbar miteinander verbunden.
Kontexte, die Maschinen nicht erfassen
Jeder Mensch hat eine individuelle Haltung zum Koran und diese spiegelt sich in den Übersetzungen wider. Im deutschsprachigen Raum etwa gibt es zwei Tendenzen: Die einen sind philologisch orientiert, häufig von Arabist:innen oder Orientalist:innen verfasst. Sie betrachten den Koran als literarisches oder historisches Dokument, aber übersehen dabei oft seinen spirituell-poetischen Charakter.
Die anderen sind aus dem Inneren des Glaubens heraus geschrieben, meist von gläubigen Muslim:innen. Doch gerade diese betonen ihre eigene Begrenztheit: Sie sprechen nicht von „Übersetzung“, sondern von einer ungefähren Wiedergabe der Bedeutung – entweder aus Ehrfurcht oder aus theologischer Konsequenz: Wie könnte ein Mensch das Wort Gottes übersetzen?
Deshalb sind solche Übersetzungen oft ausgreifend, erklärend, mit Fußnoten versehen, in denen sich die semantischen Varianten entfalten. Es ist schwer, ein einziges arabisches Wort eindeutig ins Deutsche zu übertragen.
Wer den Koran übersetzt, übersetzt sich selbst mit. Besonders deutlich wird dies im internationalen Forschungsprojekt The Global Qur’an an der Universität Freiburg. Es zeigt, dass sich in jeder Koranübersetzung nicht nur sprachliche Präzision oder theologische Intention niederschlagen, sondern auch politische Kontexte, kulturelle Prägungen, historische Situationen – etwa Kolonialismus, Migration, Bildungspolitik, Zensur oder Missionskonflikte.
Koranübersetzungen sind nicht nur Antworten auf den Text, sondern auf eine Welt, in der dieser Text neu gesprochen wird. Genau diese Kontextualität kann keine Künstliche Intelligenz erfassen, weil sie nicht in einem sozialen Raum lebt, keine Geschichte hat, kein kulturelles, theologisches Gedächtnis kennt, sondern gespeicherte Daten.
Die Versuchung der Perfektion
Künstliche Intelligenz verspricht Präzision. Sie liefert, so der Eindruck, keine ungefähren Ergebnisse. Doch in Wahrheit haben wir mit programmiertem Algorithmus und Wahrscheinlichkeiten mit hoher statistischer Prägung zu tun. Es gibt keine exakte Sprache, nicht einmal im Alltag. Der einfache Satz „Ich liebe x“ kann eine Vielzahl an Bedeutungen haben, je nachdem wer ihn wann wie und warum ausspricht. Die Mehrdeutigkeit, insbesondere im Koran ist Teil des Korans. Nicht jede Ambiguität ist zu beseitigen. Der Glaube lebt von dem, was nicht eindeutig erklärbar ist.
Wenn wir den Koran „glätten“, ihn algorithmisch bereinigen, seine Vieldeutigkeit reduzieren, um ihn „verständlicher“ zu machen, verlieren wir ihn als den Text, der er ist, weil er dadurch tendenziös und vor allem ideologisch verengt wird. Die Oberfläche wird klarer, aber die Tiefe geht verloren.
Gleichwohl lässt sich nicht leugnen, dass KI auch neue Formen religiöser Praxis ermöglicht. Muslime weltweit nutzen Apps zur Bestimmung von Gebetszeiten und der Qibla, der Gebetsrichtung, oder zum Lernen des Koranrezitierens. Es gibt Programme, die Hadith-Sammlungen erschließen oder auf Alltagsfragen reagieren.
Diese Angebote erleichtern Zugang, fördern Wissen, demokratisieren auch Wissen und Wissenszugang. Es geht hier nicht darum, den Fortschritt der KI pauschal zu verteufeln, sondern um eine Bestimmung, womit wir hier zu tun haben. KI-Programme erleichtern Vieles, aber sie ersetzen kein spirituelles Leben. Sie sind Hilfen – keine Autorität. Und sie bergen die Gefahr, dass Religion zur Funktion wird: abrufbar, verfügbar, konsumierbar – glatt, objektiv, eindeutig und letztlich menschenunabhängig.
Doch gerade der Koran ist eine Offenbarung für die Menschen, um es religiös zu sagen, für die Vertiefung des eigenen Menschseins und der eigenen Menschlichkeit.
Eine KI weiß nicht, dass sie etwas weiß, sie kann Menschen bei Schachspielen besiegen, aber sie weiß nicht, dass sie Schach spielt. Sie kann die Sprache des Korans analysieren, philologisch einfangen, in eine andere Sprache überführen, aber sie kann den Koran nicht empfangen. Der Islam ist keine Anweisung, sondern ein Weg. Eine Hingabe, die nicht programmiert werden kann. Die Frage nach Gott ist kein Algorithmus, sondern ein existenzieller Ruf des Herzens.
Für die islamische Theologie bedeutet das: Sie muss sich der KI stellen – nicht als Gegnerin, sondern als Gesprächspartnerin. Aber sie darf sich nicht verführen lassen. Sie darf nicht glauben, dass die „bessere“ Antwort die wahre sei. Sie muss fragen: Was ist ein Mensch? Was ist Wahrheit? Und was heißt es zu übersetzen?
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