Streit um Reform der Erinnerungskultur
Die deutsche Erinnerungskultur gilt international seit Jahrzehnten als Maßstab für den Umgang mit einer dunklen Vergangenheit und das Gedenken an die Opfer der Naziherrschaft. Allerdings wächst der Druck, auch die koloniale Vergangenheit in die deutsche Erinnerungskultur zu integrieren. Als die Regierung von Olaf Scholz 2021 an die Macht kam, wurde im Koalitionsvertrag festgelegt, dass die Erinnerungskultur reformiert werden soll, um die Kolonialgeschichte und die Geschichte der Menschen, die nach Deutschland eingewandert sind, mit einzubeziehen.
Im Februar veröffentlichte das Büro der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Claudia Roth (Bündnis 90/ Grüne), einen 43-seitigen Entwurf mit Reformvorschlägen. Der Titel: "Rahmenkonzept Erinnerungskultur".
Das reformierte Erinnern solle, so steht es in dem Papier, zukünftig fünf Bereiche umfassen: die Geschichte des Nationalsozialismus, die Historie des SED-Unrechtregimes während der DDR-Zeit, die koloniale Vergangenheit, die Geschichte der Demokratie und der Zuwanderung. Als das Papier bekannt wurde, entbrannte ein Sturm der Kritik. Vor allem die Leitungen von Holocaust-Gedenkstätten kritisieren die Pläne von Roth heftig.
Protest aus den NS-Gedenkstätten
Vertreter dieser Institutionen unterzeichneten einen Brief, in dem es heißt, dass der neue Rahmen einen "Paradigmenwechsel einleiten würde, der zu einer fundamentalen Schwächung der Erinnerungskultur" führe. Außerdem weiche er ab "von dem langjährigen Konsens, dass die nationalsozialistischen Verbrechen nicht relativiert werden (…) dürfen".
Für die Unterzeichner des Briefes machen Roths Vorschläge die zentrale Bedeutung des "Menschheitsverbrechen der Shoah" für Deutschland nicht deutlich und könnten daher "als geschichtsrevisionistisch im Sinne der Verharmlosung der NS-Verbrechen verstanden werden". Die Kritik war so stark, dass die Behörde von Claudia Roth den Entwurf von der Webseite löschte.
Kein "Opferwettbewerb" beim Erinnern
Tahir Della ist Sprecher der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland e.V. (ISD), einer gemeinnützigen Organisation, die die Interessen schwarzer Menschen in Deutschland vertritt und die vom Bundesamt für Kultur eingeladen wurde, zu den ersten Vorschlägen Stellung zu nehmen.
Della begrüßte die Einbeziehung der Kolonialgeschichte in die breitere Erinnerungskultur, betonte aber, dass es sich nicht um einen "Opferwettbewerb" handele. Seine Initiative wolle Teil eines Austauschs zwischen Holocaust-Gedenkstätten, den Gedenkstätten für Sinti und Roma und für die Opfer des DDR-Systems sein, um zu verdeutlichen, "dass historische Erfahrungen, Verfolgungsgeschichten, Epochen als miteinander verwobene Geschichten betrachtet werden müssen und sollen".
Es gehe darum "dass wir von kolonialer Kontinuität sprechen, die über die Kolonialzeit hinaus in die NS-Zeit hineinreicht, dass es sozusagen Vorläufer gab, bevor Deutschland überhaupt offiziell Kolonialmacht war und dass Deutschland an Kolonialverbrechen, an Versklavung beteiligt war", sagt Della der Deutschen Welle (DW).
Della sieht die aktuellen Herausforderungen des Klimawandels, der Migration, der Vertreibung, der anhaltenden globalen Ungleichheit, des Rassismus auch gegen Schwarze als direkte Folge der europäischen Kolonialzeit.
"Ich befürchte, dass das [die Reaktion] zum Teil damit zusammenhängt, dass wir eine Geschichte 'aufarbeiten' müssen, die für die deutsche Geschichtsschreibung, für das deutsche Selbstverständnis nicht besonders positiv ist, dass es so vielen Menschen schwerfällt, diese Aspekte der deutschen Geschichte zu berücksichtigen", ergänzt Della.
Erinnerungskultur in einer globalisierten Welt
Auch Sebastian Conrad, Professor für globale und postkoloniale Geschichte an der Freien Universität Berlin, kann keine Verharmlosung der NS-Zeit in den Vorschlägen erkennen. Die Einbeziehung der Kolonialzeit sei keine Verharmlosung der Nazi-Schreckensherrschaft mit der Shoah.
"Ich teile die Prämisse der Kritik nicht, dass wir, sobald wir an etwas anderes erinnern, relativieren", sagt er der DW. Für Conrad spiegelt die Debatte um die Erinnerungskultur breitere gesellschaftliche Themen wider; insbesondere die Frage der Migration nach Deutschland seit 2015. Diese müsse seiner Meinung nach auch auf der Ebene der Erinnerungspolitik diskutiert werden, da sich die Erinnerung an die Vergangenheit mit dem steten Wandel der deutschen Gesellschaft verändere.
"Jedes Jahr kommen neue Deutsche, neue Deutsche werden geboren, neue Deutsche kommen ins Land, also wäre es einfach nicht realistisch zu denken, dass Erinnerung etwas Stabiles und Festes ist, auf das man sich geeinigt hat, und dass es einen Konsens gibt, und so bleibt es", sagt er.
"Die globalisierte Welt, in der wir leben, hat eine längere Geschichte, und diese Geschichte ist eine, in der der Kolonialismus eine entscheidende Rolle gespielt hat", fügt Conrad hinzu. "Wenn wir also verstehen wollen, wie wir zu unserer globalisierten Gegenwart gekommen sind, müssen wir auch die Geschichte des Imperialismus, der Imperien und des Kolonialismus verstehen."
Eine Vergangenheit, die noch gegenwärtig ist
Henning Melber, ein deutsch-namibischer Politikwissenschaftler, antikolonialer Aktivist und Autor eines in Kürze erscheinenden Buches über das Erbe der deutschen Kolonialherrschaft, bezeichnet die Reaktion auf Roths Vorschläge als "traurig und bedauerlich".
"Es scheint fast eine reflexartige Reaktion zu sein, da man befürchtet, dass die Hinzufügung von zwei weiteren Säulen zum Gedenken an den Holocaust und die DDR - die interessanterweise nie als Konkurrenz betrachtet wurde - Aufmerksamkeit und möglicherweise auch Mittel für ihre Aktivitäten wegnehmen würde", sagt er der DW.
Der Holocaust wird oft als "Zivilisationsbruch" beschrieben. Aber die postkoloniale Kritik argumentiert, dass die europäischen Kolonialmächte bereits vor dem Holocaust eine rassistische und gewalttätige Herrschaft, einschließlich Völkermord, im Namen der Zivilisation errichtet hatten.
Zu Deutschlands eigener gewalttätiger Kolonialgeschichte gehört der Völkermord an den Herero und Nama (1904-1908) im heutigen Namibia.
"All jene, die eine angemessene Auseinandersetzung mit kolonialen Verbrechen fordern, haben nie in Frage gestellt, dass der Holocaust in einer singulären Form der geplanten, systematischen, industriellen Massenvernichtung einer bestimmten Gruppe, oder besser gesagt, bestimmter Gruppen im Plural, gipfelte", so Melber.
Die Opfer aller Verbrechen würdigen
"Wenn ich versuche, die Perspektive der Herero und Nama zu verstehen, dann war die Ausrottungsstrategie, die zum Tod der meisten ihrer Vorfahren führte, eine einzigartige Erfahrung, so dass auch ihre Opferrolle eine einzigartige ist", fügt er hinzu. "Das heißt aber nicht, dass beide Verbrechen gleich sind. Niemand würde das behaupten. Die Forderung ist, die Opfer dieser Verbrechen angemessen zu würdigen und eine ausreichende Sühne zu fordern."
Während Deutschland oft für seine Erinnerungskultur im Zusammenhang mit dem Holocaust gelobt wurde, hat es laut Melber "völlig versagt", wenn es um die gewalttätige Geschichte des deutschen Kaiserreichs in den Kolonien gehe. Zum Teil auch deshalb, weil die ehemaligen Kolonialmächte immer noch Nutznießer eines Systems seien, das auf Ausbeutung, Unterwerfung und Unterdrückung beruhte.
"Wenn wir bereit sind, die Geschichte mit ihren Folgen für uns als Nutznießer und für diejenigen, die sie erlebt haben, anzuerkennen, entsteht ein massives moralisches Problem", sagt Melber. "Wie können wir uns in der Gegenwart wirklich mit dieser Vergangenheit auseinandersetzen, denn sie ist nicht Vergangenheit, sie ist Gegenwart. Im Grunde bedeutet das: Wie viel sind wir bereit, aufzugeben?"
Hellen Whittle
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