Mauern, Macht und ein verschwundenes Mosaik

Außenansicht des Hauses von Qusay Awads Familie, das aus Stein gebaut ist und einen Innenhof hat
Vorerst hat die Zivilgesellschaft dieses Familienheim in Schahba, Südsyrien, zurückerobert (Foto: Qusay Awad)

Von den französischen Kolonialherren bis zu den Assads: Das Haus unseres Autors wurde über Jahrzehnte zweckentfremdet, sogar vom Militär benutzt. Nun will seine Familie dem Gebäude neues Leben einhauchen.

Von Qusay Awad

Zehn Monate nach dem Fall des Assad-Regimes ist in Syrien viel von »Wiederaufbau« die Rede. Während das Land beginnt, sich aus seinen Trümmern zu erheben, stellt sich mir die Frage, was es bedeutet, an einen Ort zurückzukehren, der so lange von fremden Mächten besetzt wurde.

Wie können wir nicht nur Gebäude rekonstruieren, sondern auch Erinnerungen? In meiner Familie ist diese Frage mit einem ganz bestimmten Haus verknüpft.

Es geht um das Haus unser Familie in Schahba, einer Kleinstadt in der südsyrischen Provinz Suwaida. Für uns war es immer mehr als nur ein Gebäude. Fünf Generationen haben es kennengelernt, und jede erinnert es anders: als Zuhause, Ausgrabungsstätte, Schule, Militärposten oder Symbol für Durchhaltevermögen. Es ist nicht nur ein Familiensitz, sondern auch ein lebendiges Zeugnis der Geschichte Syriens.

Die Wände aus Basalt erinnern sich an alles: an die Hände, die es erbauten, an die hallenden Schritte derer, die es erstürmten, an die stille Würde einer Familie, die zusehen musste, wie ihre Geschichte Stück für Stück entwendet wurde. 

Diese Mauern waren einst warm und porös, und sie wären fast erstickt unter den dicken Betondecken, die während des französischen Mandats eingezogen wurden – ein Baustil, der unserer Region fremd ist. 

An den Wänden prangen eingeritzte Parolen, die Hafis al-Assad und seinen Sohn Baschar verherrlichen, wie Narben. In den Räumen lagen lange Uniformen und verrostete Teile militärischer Ausrüstung herum – Geister der Soldaten, die dort einst stationiert waren.

Und doch: Als ich nach zehn Jahren im Exil im März 2025 dorthin zurückkehrte, wurde mir klar, dass dieses Haus viel mehr als nur ein Ort der Unterdrückung ist. Als Kind betrachtete ich es vom Balkon unseres zweiten, kleineren Hauses auf der anderen Straßenseite aus. Ich träumte davon, eines Tages hineingehen und darin spielen zu können. 

In dem großen Innenhof stehen zwei Olivenbäume einander gegenüber, als wäre sie im stillen Gespräch. Daneben wacht eine hohe Zypresse über die Nachbarschaft. Durch einen gewölbten Steinbogen und zwei massive Türen gelangt man in das Gebäude mit seinen fünf geräumigen Zimmern. Durch die Fenster ergießt sich Sonnenlicht großzügig in jede Ecke. Von draußen werden Vogelrufe, Hahnenschreie und Hühnergegacker hereingetragen. Es war – und ist in vieler Hinsicht – ein Haus, das atmet.

Römische Ruine als Fundament

Unser Haus wurde Ende des 19. Jahrhunderts von meinem Urgroßvater erbaut. Schahba ist eine Stadt aus Basalt, die auf einem vulkanischen Hochplateau liegt, umrahmt von schwarzen Hügeln. Das Material ist sehr haltbar, aber schwer zu bearbeiten. Deshalb war es damals üblich, Steine aus römischen Ruinen für den Bau neuer Häuser herzunehmen. 

Mein Urgroßvater machte es ähnlich: Er errichtete das Familienhaus auf den Überresten einer antiken Wohnstätte. Diese Ruine als Basis zu verwenden, war zwar praktisch, trug aber gleichzeitig das koloniale Erbe des römischen Imperium Romanum in sich – genau wie die gesamte Stadt. Schahba, einst unter Kaiser »Philipp dem Araber« in Philippopolis umbenannt, ist bis heute für seine Ruinen und seine vier monumentalen Stadttore bekannt.

Wir verloren unser Haus, als französische Kolonialbehörden in der Mandatszeit, die von 1923 bis 1946 dauerte, die Verwaltung von Schahba übernahmen. Sie beschlagnahmten unser Zuhause, um es als Sammelstelle für archäologische Ausgrabungen zu nutzen. Mein Urgroßvater hatte keine andere Wahl, als es aufzugeben. 

Nach dem Verlust errichtete er direkt gegenüber ein neues, bescheidenes Haus. Im Laufe der Jahrzehnte wurden weitere Räume an die ursprünglichen zwei Zimmer angebaut. Mein Großvater, mein Vater und meine Onkel errichteten später ihre Häuser auf diesem Grundstück. Dort bin ich aufgewachsen, das verlorene Haus stets vor Augen, nur wenige Schritte entfernt.

Meine Großmutter Zakïa Awad erinnert sich an die Zeit der französischen Besatzung: »Als Fünfjährige sah ich. wie französische Soldaten zusammen mit Archäologen im Haus Löcher gruben, als suchten sie etwas Verstecktes. Nach einigen Tagen holten sie riesige Mosaiktafeln aus dem Untergrund hervor, bunt und aus winzigen Steinen gefertigt. Sie luden sie auf große Transportwagen und brachten sie an einen unbekannten Ort.«

Römisches Mosaik "Die Verherrlichung der Erde"
Das Mosaik „Die Verherrlichung der Erde“: Aus dem Haus der Familie Awad entwendet, ist es nun im Nationalmuseum von Damaskus zu sehen. (Foto: Wikimedia Commons | Dosseman)

Jahre später deuteten Aufzeichnungen einer französischen archäologischen Mission darauf hin, dass meine Großmutter mit ihren Erinnerungen richtig gelegen hatte: 1953 veröffentlichte der Archäologe Ernest Will einen Bericht im Bulletin de Correspondance Hellénique, in dem er die Entdeckung eines römischen Mosaiks mit dem Titel »Die Verherrlichung der Erde« in einem privaten Wohnhaus beschrieb. Er nannte es das »Maison Aoua«, also »Das Haus Aoua«, sehr wahrscheinlich eine französische Umschrift unseres Familiennamens »Awad«. 

Das besagte Mosaik war eines von insgesamt vier, die in zwei Missionen geborgen wurden. Heute befinden sich zwei der Werke im Nationalmuseum von Suwaida, während »Die Verherrlichung der Erde« und ein weiteres Bild im Nationalmuseum von Damaskus ausgestellt sind. 

Trotz seines künstlerischen und historischen Werts erwähnt der französische Bericht das Haus, aus dem das Mosaik stammt, mit keinem Wort – ebenso wenig die Familie, die für dessen Bergung vertrieben wurde. Das Artefakt fand eine neue Heimstätte, uns blieb das Haus vorenthalten.

Was während des Kolonialismus nicht mit Karren und Schaufeln abtransportiert wurde, wurde umfunktioniert. Nach dem Ende der französischen Besatzung wurde das Haus unter kommunale Verwaltung gestellt. Mein Großvater Awad Awad versuchte, es zurückzubekommen – vergeblich. Die Art der Enteignung, die folgte, war kein Einzelfall. Machtpolitik war damals wichtiger als Recht und Gesetz. 

Eine einflussreiche Familie, die mit den Kolonialbehörden kooperiert hatte, übernahm die Verwaltung von Schahba. Anstatt das Haus an uns zurückzugeben, machte sie eine Grundschule daraus. In einer bitteren Ironie des Schicksals besuchten meine Onkel und Tanten später genau diese Schule und wurden in den Mauern, die ihr Großvater einst für sie errichtet hatte, unterrichtet.

Nackt in der Kälte

Die Zeit nach dem Ende des französischen Mandats war geprägt von erheblicher Instabilität, Machtkämpfen und mehreren Regierungswechseln. Mit dem Putsch der Baath-Partei 1963 und der anschließenden Machtübernahme von Hafis al-Assad 1970 wurde Architektur zu einem Herrschaftsinstrument umfunktioniert. Städtischen Raum gestaltete man so, dass man die Massen besser kontrollieren konnte. Plätze und Straßen wurden zur Bühne für das Regime. Kulturelle Institutionen dienten der Verherrlichung Assads. 

Während der Herrschaft von Hafis al-Assad wurde die Schule – unser Haus – in eine militärische Ausbildungs- und Rekrutierungsbasis umfunktioniert. Soldaten und Offiziere aus ganz Syrien waren dort stationiert, direkt gegenüber von unserem kleinen Haus auf der anderen Straßenseite.  

Blick auf das Haus durch Gitterstäbe
Lange Zeit hatte die Familie Awad keinen Zugang zu ihrem Haus. (Foto: Augustine Amer)

Während meiner Kindheit und Jugend bestimmten Geräusche und Bilder des Militärlebens unseren Alltag: gebrüllte Befehle, exerzierende Soldaten, Gewehrfeuer. Manchmal zeigte sich die Grausamkeit des Regimes ganz offen: Ich erinnere mich an einen Wintermorgen, an dem ich von meinem Fenster aus sah, wie ein Soldat zur Strafe nackt in der Kälte stehen musste. Die Nähe zu der Militärbasis veränderte unser Leben – wie wir uns bewegten, sprachen, kleideten.

Filme und Workshops

Das Haus blieb bis zum 8. Dezember 2024 ein Militärposten. Nachdem das Assad-Regime zusammengebrochen war, übernahmen lokale Oppositionskräfte in Schahba das Gebäude. Mein Onkel Muhammad Awad erinnert sich: »An diesem Tag lag Spannung in der Luft. Ich bekam einen Anruf von einem Mitglied einer bewaffneten Oppositionsgruppe, das mir sagte, dass die Militärbasis befreit worden sei und ich sofort kommen solle, um das Haus wieder in Besitz zu nehmen. Nachbarn erinnerten sich noch daran, dass es unserer Familie gehörte.« 

Doch wir hatten keine Dokumente, kein Gerichtsurteil, nur die Unterstützung durch die Gemeinde. Wir wussten, dass wir keinen offiziellen Anspruch darauf hatten. Trotzdem putzten wir das Haus, öffneten wieder seine Türen und begannen zu träumen. Gemeinsam stellten wir uns einen Ort vor, an dem nicht nur die Mauern, sondern auch die sozialen Wunden heilen könnten.

Heute, ein paar Monate nach dem Fall des Regimes, bedeutet Wideraufbau nicht nur, die physischen Mauern zu reparieren – sondern auch die dazugehörigen Machtstrukturen zu hinterfragen. Nachdem der Krieg das soziale Gefüge des Landes zerrissen hat, soll unser zurückgewonnenes Haus Räume bieten, in denen die Gesellschaft neu gedacht werden kann. In denen partizipative, inklusive, nachhaltige Modelle für ein künftiges Syrien entwickelt werden.

Ganz in diesem Sinn wurde unserem Haus neues Leben eingehaucht: Gemeinsam mit der Gemeinde begann meine Familie, es von einem Ort der Repression in einen der Hoffnung umzuwandeln. Es wird nun für zivilgesellschaftliches Engagement genutzt, von diversen Aktivistinnen und Aktivisten, und von der Sozialkommission für Nationale Aktion, einer basisdemokratischen, überparteilichen Gruppe, die auf ein gerechtes, inklusives Syrien hinarbeitet. Das Haus wird nach und nach renoviert, um öffentliche Veranstaltungen, Filmvorführungen, Workshops und Diskussionen zu beherbergen. 

Doch rechtlich ist diese neue Nutzung des Gebäudes nicht gesichert: Es ist weiterhin als Staatseigentum registriert. In naher Zukunft könnte die Regierung es zurückfordern – wer auch immer dann an der Macht ist. Eine Art von Bedrohung bleibt also bestehen. So werden wir auch immer wieder daran erinnert, dass eine wahre Restitution nicht nur symbolisch sein müsste, sondern auch rechtlich bindend.

Die drängendsten Fragen für uns lauten also weiterhin: Was könnte die neue Regierung mit diesen Räumen noch vorhaben? Werden die Menschen, die das Haus zurückerobert haben, es vor einem potenziell übergriffigen Staatsapparat schützen können, um es gemeinsam und gemeinwohldienlich zu nutzen? Wie ließe sich für uns als Familie und als lokale Gemeinschaft sicherstellen, dass uns der Besitz, der uns einst genommen wurde, erhalten bleibt?

 

Aus dem Englischen von Julia Stanton. 

 

Dieser Text erscheint in Kürze auch in einer gemeinsamen Ausgabe von Qantara und dem Magazin Kulturaustausch. Weitere Analysen, Interviews und Reportagen finden Sie in unserem Syrien-Schwerpunkt

 

© Qantara