Ein Kurde über seine Flucht: Zwischen Todesangst und Riesenglück
Europa will Zuwanderung eindämmen; auch in Deutschland ist das gerade Thema. Derweil treten Menschen ihre gefährliche Flucht an in der Hoffnung auf ein sicheres Leben. Und manchmal gibt es sogar ein Happy End - für alle.
Rom (KNA) Mit Mitte zwanzig schien Mohammeds* Leben in guten Bahnen. Der studierte Englischlehrer aus Kirkuk reparierte nebenbei Laptops, auch für die örtliche Polizeistation. "Eines Tages kamen Leute, die sagten: Wenn du uns nicht Informationen über die Bewachung der Gefangenen und Daten von den Polizei-Computern lieferst, töten wir dich", erzählt der Kurde. Und die Männer, die offenbar Terroristen befreien wollten, bedrohten ihn und seine Familie immer weiter; Mohammed musste untertauchen und bereitete seine Flucht nach Europa vor.
Das war 2016. Inzwischen hat er in Italien Fuß gefasst, ist als politischer Flüchtling anerkannt; er studiert, jobbt und hilft anderen Migranten bei der Integration. Seine Heimat, vor allem seine Eltern, vermisst der 33-Jährige sehr. "Aber ich danke den europäischen Ländern, dass sie Geflüchtete aufnehmen und kaum einen Unterschied zur Behandlung ihrer eigenen Bürger machen."
Mohammeds Geschichte, die er als Freiwilliger des Joel Nafuma Refugee Center in Rom erzählt, gleicht Millionen Migrantenschicksalen, über die europaweit diskutiert wird: Menschen besteigen seeuntaugliche Boote von Schleppern, um Not, Krieg und Verfolgung zu entfliehen - egal, ob sie anerkannten Asylgründen im Westen entsprechen.
Mohammed berichtet: "Manchmal wache ich nachts auf und sehe mich wieder auf dem kleinen Boot von Izmir nach Griechenland, zusammen mit 80 anderen. Dann höre ich die Schreie der Ertrinkenden." 20 Menschen seien bei der Überfahrt auf dem klapprigen Kahn ertrunken, auch viele Kinder. "Ich dachte: Wenn ich sterbe, wissen meine Eltern nicht, wo sie mich finden können." Rettung für die Schiffbrüchigen kam von Helfern der Vereinten Nationen und dem Roten Kreuz.
In Athen fand Mohammed einen neuen Schlepper, der ihn von Patras nach Süditalien schleusen wollte. "Ich klammerte mich unter einem Tanklaster fest, der auf die Fähre fuhr." Dort versteckte er sich während der ganzen Überfahrt, bis sie nach 16 Stunden endlich in Bari anlegten. "Da ich keine Papiere hatte, musste ich mich irgendwie zwischen den Touristen durch den Checkpoint mogeln - und ich hatte Riesenglück!"
In Bari meldete er sich auf der Polizeistation und verbrachte 15 Tage in einem Park. Schließlich lud ihn ein Kurde zu sich ein, gab ihm Kleidung und Essen. "Aber als erstes konnte ich endlich meine Familie anrufen", erzählt Mohammed: "Wir weinten vor Glück, dass ich sicher angekommen war. Aber auch vor Trauer."
Nach seiner Registrierung als Flüchtling wollte Mohammed so schnell wie möglich Italienisch lernen. Übernachten konnte er in einem Caritas-Zentrum und fand einen Job als Reinigungskraft. "Nun ja, im Irak habe ich als Lehrer gearbeitet; aber man muss ja Geld verdienen." Als er nach neun Monaten, im Sommer 2017, seine Dokumente bekam, fragte er den Richter, ob er auch seine Eltern herholen könne. "Ja, das können Sie!", sagte der.
Seit zwei Jahren arbeitet Mohammed als Freiwilliger im Joel Nafuma Refugee Center (JNRC) in Rom. Die Tageseinrichtung in der Krypta der anglikanischen Kirche San Paolo entro le Mura wird vor allem von Ehrenamtlichen betrieben, durch Spenden. Mohammed hilft Migranten bei rechtlichen Problemen und der Jobsuche. Außerdem bietet er für die Mitarbeitenden Arabisch an, damit sie ihre Klienten besser verstehen können. Und der 33-Jährige vermittelt bei Konflikten unter den Migranten. "Man muss ihre Situation verstehen: Sie haben keine Familie, kein Geld, keinen Job, keinen Platz zum Schlafen. Ich weiß, wie man mit Flüchtlingen spricht - denn das ist mein eigener Hintergrund."
Darin sieht Mohammed auch seine berufliche Zukunft. Seit einem Jahr studiert er an der Universität Sapienza "Studi Umanistici Globali"; ein interdisziplinärer Studiengang um politische und kulturelle Aspekte von Zuwanderung. "Mein großer Traum ist, künftig im Bereich Migration und Menschenrechte zu arbeiten und dafür noch internationale Beziehungen und Diplomatie zu studieren."
Froh ist Mohammed über sein sogenanntes CRUI-Stipendium des italienischen Innenministeriums für Flüchtlinge. Dazu verdient er bei einer Zimmervermittlung für Studenten und mit dem Übersetzen von Dokumenten etwa 300 Euro im Monat. Seit August genießt der Kurde unbeschränkte Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. Und als im November endlich die Zusage der italienischen Behörden kam, seine Eltern nachholen zu dürfen, schien sein Glück perfekt.
Doch dann der Schock: Statt der Ausreisedokumente bekamen seine Eltern im italienischen Konsulat in Erbil einen Ablehnungsbescheid. Der Vater habe keinen Nachweis erbracht, dass er krank ist. Dabei sei er seit einer Bombenexplosion 1981 im Iran-Irak-Krieg halbseitig gelähmt. "Ich habe dem Konsulat sofort gemailt, dass das doch unübersehbar sei", sagt Mohammed. "Ich verstehe das nicht! Ich habe doch das Okay von den Behörden."
Ob die plötzlichen Probleme mit Italiens neuer Rechtsaußen-Regierung zusammenhängen könnten, mag Mohammed nicht beurteilen. Dass Ministerpräsidentin Giorgia Meloni Migranten fernhalten will, hat sie erst kürzlich beim EU-Migrationsgipfel betont. Und bereits im Dezember machte sie ihren Standpunkt deutlich: "Die banale Wahrheit ist, dass wir jene bei uns aufnehmen, die das Geld haben, den Schleppern die Überfahrt zu zahlen", sagte sie dem Sender RAI Uno. Mohammed hat darauf eine klare Antwort: "Meine Eltern haben ihr Haus in Kirkuk verkauft und leben jetzt in zwei Zimmern auf dem Dorf, damit ich vor der Gefahr fliehen konnte."
Rassismus habe er in all den Jahren in Italien nicht erlebt. Doch im Moment ist er verzweifelt und enttäuscht. Gegen den Bescheid hat er Widerspruch eingelegt. "Niemand ist sicher im Irak, schon gar nicht als Kurde", sagt Mohammed, voller Angst um seine Eltern. Und er gibt nicht auf: "Ich möchte der Welt zeigen, dass selbst ein Mensch in einer schwierigen Situation seine Träume wahr machen kann. Und auch, dass Migranten nicht so schlecht sind, wie manche denken."