''Der Islam ist für alle Gläubigen''
Sie haben sich in Ihrer Forschung hauptsächlich mit dem Koran und Geschlechterrollen beschäftigt. Macht es einen Unterschied, ob der Koran von einem Mann oder einer Frau gelesen wird – und wie unterscheiden sich die Interpretationen?
Amina Wadud: Das ist eine wichtige Frage, die allerdings in der Geschichte der Koraninterpretation erst in der Moderne aufgeworfen worden ist. Ich finde diese Tatsache ziemlich erschütternd, denn obwohl unser Wissen sehr präzise und unsere intellektuelle Tradition sehr stark ist, wurde diese Frage nie gestellt. Im 20. Jahrhundert wurde das Thema erstmals aufgegriffen und die Antwort ist: Ja, es macht einen Unterschied. Das können wir an der Art der Koraninterpretation bis zum 20. Jahrhundert erkennen, die von Männern entwickelt wurde.
Bis ins 20. Jahrhundert haben Frauen weder tafsir betrieben, das heißt den Koran ausgelegt, noch gibt es schriftliche Berichte muslimischer Frauen, die als Zeugnis dienen könnten, dass Frauen den Koran interpretiert haben.
Wir wissen, dass Frauen den Koran gelesen und ihn seit der Zeit des Propheten auswendig gelernt haben. Aber wir wissen nicht, was Frauen über den Koran denken, darüber gibt es keine Berichte. Also versuchen wir, die Wissenslücken aufzufüllen und eine geschlechtergerechte Lesart zu entwickeln, die das Thema öffnet und uns ein besseres Verständnis darüber verschafft, was der Koran für uns als Menschen bedeutet.
Glauben Sie, dass die Form der unabhängigen Interpretation, die in der muslimischen Tradition Ijtihad genannt wird, wiederbelebt werden kann?
Amina Wadud: Ich stimme zweifelsfrei zu, dass wir Experten und Gelehrte respektieren müssen. Muslime haben seit jeher eine starke Geschichte von Intellektualismus, aber jetzt sind die Menschen aufgefordert, sich zu erinnern, dass der Islam für alle Gläubigen da ist, Frauen wie Männer. Und wenn wir alle ein Recht auf den Islam haben, dann haben wir auch alle einen Anteil daran, wie der Islam artikuliert wird, wie er beurteilt wird, wie er von Regierungen genutzt wird und welche Gesetze er hervorbringt.
Und wenn der Islam nicht zu jedem einzelnen von uns gerecht ist, dann bedeutet dies, dass der Islam an sich nicht gerecht ist. Selbst wenn also nicht jeder von uns ein Experte in jedem Aspekt des fiqh (Islamische Jurisprudenz) oder des tafsir ist, so können wir doch zum Verständnis unserer Religion beitragen, indem wir darüber nachdenken, ob wir den Islam auf authentische und gerechte Weise in unserem Leben Realität werden lassen. Die Schlussfolgerung ist also: Selbst wenn wir keine Experten sind, so können wir doch den Diskurs beeinflussen.
In Deutschland und Frankreich gibt es nach wie vor eine Debatte darüber, ob der Islam ein integraler Teil der französischen oder deutschen Identität ist. Glauben Sie, dass dies der Fall ist?
Amina Wadud: Ja, es gibt eine authentische deutsche oder französische islamische Identität. Das Problem ist, dass bestimmte Kräfte der deutschen Gesellschaft behaupten, dass die deutsche Gesellschaft eine homogene Gruppe "weißer" Menschen ist. Das ist bedauerlich, vor allem in Anbetracht der Tatsache, wie multikulturell die meisten Nationen heutzutage sind. Die Welt ist sehr viel dynamischer. Im Grunde würde ich diesen Menschen raten, die Tatsache zu akzeptieren, dass ihr Sohn oder ihre Tochter morgen einen Muslim mit türkischem, arabischem oder asiatischem Hintergrund heiraten könnte.
Es ist also an der Zeit, sich der Realität zu stellen, dass wir uns alle diesen Planeten teilen und dass unsere Nationalität nur durch Zufall deutsch, amerikanisch oder indisch ist. Unsere Menschlichkeit wird nicht durch unsere Nationalität verbessert.
Interview: Abderrahmane Ammar
© Qantara.de 2013
Aus dem Englischen von Laura Overmeyer
Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de