Lähmende Lethargie
Die geringe Beteiligung an den Wahlen in Marokko wirft ein Schlaglicht auf die zunehmende Entfremdung der Bevölkerung von den politischen Eliten – eine bedenkliche Entwicklung, von der allein die verbotene islamische Bewegung profitiert. Von Sonja Hegasy
Es gibt viele Adjektive, mit denen man die marokkanische "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" (PJD) belegen kann, aber ganz sicherlich nicht mit dem Zusatz "radikal". Seit 1999 präsentiert sich die PJD, die aus einem Zusammenschluss von Mitgliedern der islamistischen Bewegung "Einheit und Reform" sowie der Partei "Mouvement populaire et constitutionnel" hervorgegangen war, als die legalistische Variante des politischen Islam im Land. Die Monarchie stellt sie nicht in Frage.
Dieses Selbstverständnis verhalf ihr bei den letzten Parlamentswahlen 2002 noch zu einem überraschenden Sieg. Sie verdreifachte damals ihre Sitze und wurde damit stärkste Oppositionskraft.
Für die Parlamentswahlen 2007 erwartete sie, die höchste Stimmenzahl auf sich vereinigen zu können und damit auch an der Regierungsbildung durch den König beteiligt zu werden. Der Wahlkampfleiter der PJD hatte verlautbaren lassen, sie rechneten mit mindestens 70 der 325 Sitze.
Die PJD wurde jedoch mit zukünftig 46 Sitzen (statt bisher 42) nur zweitstärkste Partei nach der national-großbürgerlichen Unabhängigkeitspartei. Von Wahlbetrug spricht jedoch niemand – nationale und internationale Wahlbeobachter waren vor Ort. Allerdings wird der Kauf von Stimmen moniert.
Glaubwürdigkeitsverlust der politischen Eliten
Der größte Verlierer ist die sozialistische USFP. 1997 hatte sie zum ersten Mal auf Wunsch Hassan II. mit Abderrahmane El Youssoufi den Premierminister stellen können und liegt nun nur noch auf Platz fünf. Dies gehört zu den Überraschungen des Wahlergebnisses – oder auch nicht, denn die Ära El Youssoufi hat viele enttäuscht.
Das Wahlergebnis vom 7. September macht deutlich: Die Glaubwürdigkeit der politischen Eliten in der arabischen Welt ist nach einer Reihe von Versuchen mittels Wahlen extrem zurückgegangen.
Von "Politikverdrossenheit" zu sprechen wäre ein Euphemismus: Arabische Medien berichteten, dass viele ungültige Stimmen mit Kommentaren versehen waren, wie "Vive la salafiyya jihadiyya!", "Ihr seid alle Diebe!" oder in der Hauptstadt der von Marokko besetzten Westsahara Laâyoune: "Vive la république saharienne!"
Die Wahlbeteiligung lag in Marokko dieses Mal nach offiziellen Angaben bei 37 Prozent, vor fünf Jahren waren es noch 52 Prozent.
Die Programme der insgesamt 33 zur Wahl angetretenen Parteien sowie Dutzender unabhängiger Kandidaten unterschieden sich kaum voneinander. Sowohl die linke als auch die islamistische Opposition ist in verschiedenen Parteien organisiert.
Wenn Saadeddine Otmani, Spitzenkandidat der PJD, Marokko als günstigen Ort für internationale Investoren anpreist und erklärt, er stehe für Wirtschaftswachstum, so klingt er kaum anders als der marokkanische Wirtschaftsminister selbst. Eine farblose Wahlkampagne, die praktisch nur im Fernsehen stattfand, tat ihr übrigens.
Die Bewegung "Gerechtigkeit und Wohlfahrt"
Die offiziell verbotene Bewegung "Gerechtigkeit und Wohlfahrt" des greisen Scheich Yassine gilt dagegen als veritable Opposition in Marokko. Mitgliederzahlen sind nicht bekannt, aber sie verfügt im ganzen Land über ein Netzwerk von Unterstützern. Sie ruft dezidiert zum Gewaltverzicht auf, fordert aber gleichzeitig die Abschaffung der Monarchie und trifft so den Nerv der Zeit.
Abdessalam Yassine verbindet seine Politik mit der eigentlich unpolitischen muslimischen Mystik und gewinnt so viele Anhänger. Als eine Art sozialen Neo-Sufismus könnte man die ideologische Richtung der Bewegung "Gerechtigkeit und Wohlfahrt" nennen.
Nadia Yassine, inoffizielle Sprecherin der Bewegung und Tochter des Gründers, spricht betont positiv von der PJD. Dies könnte jedoch auch sehr gut daran liegen, dass sich die PJD in der Kooperation mit dem Königshaus gerade selbst für ihre Anhängerschaft demontiert.
"Gerechtigkeit und Wohlfahrt" kann sich bequem zurücklehnen und gelassen dem Schauspiel zusehen: Die Politik- und Politikermüdigkeit treibt ihnen ohne große Mühen jene Bürger in die Arme, die eine echte Oppositionskraft, verankert im Islam, suchen.
Im Fahrwasser der AKP?
Gerne stellt sich die PJD als marokkanische Variante der derzeit in der Türkei regierenden Namensschwester AKP dar. Insbesondere im Wahlkampf 2007 hat sie versucht, diese Ähnlichkeit gewinnbringend für sich einzusetzen. Aber gerade das mag kontraproduktiv gewirkt haben.
Wer schon vorab verlautbaren lässt, dass er so wunderbar zu zähmen sei, der ist für die Bürger, die eine starke Oppositionskraft suchen, nicht sehr attraktiv.
Die türkische "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" hat eine bis heute wirksame und vor allem glaubwürdige Historie als islamistische Partei und ist für viele im Establishment noch immer ein tiefer Dorn im Auge, wie sich noch an der Konfrontation im Frühsommer dieses Jahres zwischen Militär und Außenminister Gül in der Türkei gezeigt hat.
Die negativen Entwicklungen als Folge des politischen Öffnungsprozesses im Nachbarland Algerien von 1989 bis heute führten in Marokko bei Monarchisten, Säkularisten wie Islamisten zu einem Konsens, die Gesellschaft nicht polarisieren zu wollen. Radikal wäre es in Marokko, eine Verfassungsreform zu fordern – doch das tut bislang nur die Bewegung von Nadia Yassine.
Sonja Hegazy
© Qantara.de 2007
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