„Unsere bloße Existenz gilt als Provokation“

Plestia Alaqad im Interview sitzend in einem Café in Beirut
In Alaqads Buch „The Eyes of Gaza“ geht es um die ersten Wochen des israelischen Krieges nach dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023. (Foto: Picture Alliance/AP | H. Malla)

Mit ihrer Berichterstattung aus Gaza hat Plestia Alaqad Millionen von Menschen erreicht. Heute lebt sie in Australien. Von dort spricht sie über die Flucht aus ihrer Heimat, ihren Umgang mit internationalen Medien und das Schuldgefühl, überlebt zu haben.

Interview von Elias Feroz

Qantara: In den sozialen Medien kritisieren Sie häufig westliche Journalist:innen für ihr Schweigen zu Gaza und ihre behauptete Neutralität. Sind Sie der Meinung, dass Journalismus neutral sein kann oder sollte?

Plestia Alaqad: Allzu oft vermeiden Medienschaffende bestimmte Wörter, als ob deren Verwendung ihre Neutralität gefährden würde – doch in Wirklichkeit gefährden sie damit ihre Integrität. Die Aufgabe von Journalismus ist es, die Wahrheit zu sagen, und jeder in diesem Beruf weiß um die Macht der Sprache. 

Wenn Journalist:innen oder andere unter dem Deckmantel der Neutralität die richtigen Begriffe meiden, hat das reale Konsequenzen: Es kostet Palästinenser:innen das Leben. Wie entschuldigen es Journalist:innen, die Ereignisse in Gaza nicht beim Namen zu nennen? Ich bin deshalb überzeugt, dass Neutralität im Zweifel dem Unterdrücker dient.

Auf einem Symposium in der Schweiz im vergangenen Mai lieferten Sie sich einen hitzigen Wortwechsel mit dem ehemaligen Bild-Chefredakteur Kai Diekmann. Er argumentierte, Slogans wie „From the River to the Sea“ riefen zur Vernichtung Israels auf, während Sie darauf bestanden, dass die Ereignisse in Gaza nicht als Krieg, sondern als Völkermord bezeichnet werden müssten. Wie beurteilen Sie die breitere Debatte um Sprache, Slogans und Symbole in den Medien?

Vor einigen Wochen habe ich einen Artikel mit dem Titel „Die UN nennen es Völkermord in Gaza. Werden westliche Journalist:innen das auch wagen?“ Zwei Jahre nach Beginn der Bombardierung von Gaza debattierten einige westliche Medien immer noch, ob man es als Konflikt, Krieg oder Völkermord bezeichnen sollte.

Plestia Alaqad sitzt in einem Auto und trägt einen Schutzhelm mit der Aufschrift „Press“.
Journalistin

Alaqad berichtete nach dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023 aus Gaza. Ihr 2025 erschienenes Buch "The Eyes of Gaza: A Diary of Resilience", in dem sie über die ersten Wochen des israelischen Bombardements berichtet, wurde zum New York Times-Bestseller. Sie wurde in Gaza geboren und floh im November 2023 über Ägypten nach Australien.

Währenddessen wurden in Gaza Babys getötet und verhungerten. Was mich aber noch viel mehr schmerzt, ist, dass wir – ich eingeschlossen – immer wieder über Kinder sprechen, weil sie die Unschuldigsten sind. Doch auch die Tötung von Männern, Frauen und Alten sowie die Vertreibung von Palästinenser:innen an sich dürfen wir nicht hinnehmen. 

Leider neigen wir dazu, Kinder in den Vordergrund zu rücken, nur um die Gefühle der Weltöffentlichkeit anzusprechen. Dabei sollte nichts von dem, was in Gaza geschieht, akzeptabel sein. Es ist absurd, dass sich manche Menschen auf Worte statt auf Taten konzentrieren. Sie verrennen sich in Parolen wie „From the River to the Sea, Palestine will be free“ und bezeichnen sie als antisemitisch, während die Tötung, Vertreibung und das gezielte Aushungern von Palästinenser:innen nicht als inakzeptabel gelten.

In Ihrem Buch „The Eyes of Gaza" (2025) beschreiben Sie, wie Sie Ihre Worte in Ihrer Berichterstattung aus Gaza sorgfältig wählen mussten, bevor Sie nach Australien flohen. Sie hatten Angst, dass Ihre Aussagen Sie oder Ihre Familie in Gefahr bringen. Waren Sie auch Einschränkungen oder Druck seitens der Hamas ausgesetzt?

Die Einschränkungen, die ich in Gaza erlebt habe, waren eine Folge der israelischen Besatzung. Die Angst war allgegenwärtig, da jedes Wort, jeder Online-Post einen zur Zielscheibe machen konnte. Einmal wurde ich wegen einer einfachen Halskette mit den Umrissen Palästinas in den sozialen Medien angeprangert. Es wurde behauptet, die Kette symbolisiere die Vernichtung Israels. Das war surreal, vor allem, weil wir gleichzeitig bombardiert wurden. Das führte uns vor Augen, wie unsere bloße Existenz als Provokation wahrgenommen wird.

Auf X wurde ich sogar beschuldigt, Hamas-Mitglied und keine Journalistin zu sein – dieselbe Anschuldigung, die in den letzten zwei Jahren viele palästinensische Journalist:innen gefährdet hat. Ihre Tötung sowie Angriffe auf Schulen, Krankenhäuser und Universitäten wurden mit solchen Behauptungen gerechtfertigt. Wie kann man noch von Selbstverteidigung sprechen, wenn mehr als 240 Medienschaffende getötet werden?

Ich dachte immer, außerhalb von Gaza könnte ich ohne Angst sprechen. Doch mir wurde klar, dass unsere Stimmen auch außerhalb nur eingeschränkt gehört werden und unsere Existenz geleugnet wird.

Inwiefern haben Sie den Eindruck, dass Ihre Existenz geleugnet wird?

Bei dem Symposium in St. Gallen, das Sie eingangs erwähnten, wurde ich von einem Medienunternehmen um ein Interview gebeten. Ich informierte mich über deren Arbeit und stellte fest, dass man den Palästinenser:innen dort nicht gerade wohlgesonnen war. Ich sagte dennoch zu, da ich das Potential sah, meine Sichtweise darzulegen.

Während des Interviews wurden Palästina oder die Palästinenser:innen kein einziges Mal erwähnt. Alle Fragen drehten sich um die israelischen Geiseln und Raketenangriffe auf Israel. Ich antwortete, indem ich über Gaza sprach, darüber, wie Kinder dort wegen der Raketen und Drohnen mit Angst vor dem Himmel aufwachsen, wie manche nicht zwischen Wolken und Rauch eines Luftangriffs unterscheiden können.

Nach etwa zehn Minuten brach der Journalist ab und erklärte, das Interview werde nicht veröffentlicht, da ich seine Fragen zu Israel nicht beantwortet hätte. Es war offensichtlich, wem seine Sympathien galten. Solche Begegnungen sind für uns bei Interviews mit internationalen Medien keine Seltenheit.

Sehen Sie zwei Jahre nach den Ereignissen, die Sie in Ihrem Buch beschreiben, eine Veränderung in der Darstellung von Palästinenser:innen in den internationalen Medien?

Ja, und das ist vor allem den Journalist:innen zu verdanken, die vor Ort in Gaza bleiben und berichten, was sie sehen. Ohne ihre Arbeit hätten die Menschen außerhalb Gazas keinen Zugang zu Nachrichten oder Videos aus dem Gebiet.

Sie haben einmal erwähnt, dass Sie Schuldgefühle haben, überlebt zu haben. Wie verarbeiten Sie den Verlust so vieler Kolleg:innen und Freund:innen in Gaza?

Diese Schuldgefühle plagen jeden Menschen aus Gaza, ob innerhalb oder außerhalb des Gebiets. Es gibt keine Möglichkeit, damit umzugehen, solange das Leid anhält. Jeden Morgen wache ich mit der Ungewissheit auf, ob ich heute einen weiteren geliebten Menschen verlieren werde, der noch in Gaza ist und der Gewalt nicht entkommen konnte. Ich hatte immer gehofft, es wäre nach ein paar Tagen oder Monaten vorbei. Nun sind zwei Jahre vergangen. Wie soll man sich von etwas erholen, das noch immer nicht beendet ist?

Wie beurteilen Sie das jüngste Waffenstillstandsabkommen? Sind Sie hoffnungsvoll, dass das Leid ein Ende haben wird? Am Tag der Unterzeichnung schrieben Sie auf Instagram: „Der Völkermord ist vorbei.“

Wir haben schon öfter erlebt, wie Waffenstillstandsabkommen gescheitert sind. Doch nach zwei Jahren voller Blut und Trümmer wollte ich Hoffnung zum Ausdruck bringen. Trotzdem glaubt niemand wirklich, dass der Völkermord vorbei ist, solange die Palästinenser:innen noch mit Bombenlärm und Nachrichten über weitere Tote leben müssen. 

Ein Waffenstillstand bedeutet nicht, dass das Leben in Gaza wieder „normal“ wird. Angesichts der extremen Gewalt sehnen sich die Menschen nach ihrem Leben vor Oktober 2023. Sie verklären es sogar. Doch dieses Leben war nicht normal und hätte niemals als solches angesehen werden dürfen.

Viele gelten weiter als vermisst; wir wissen nicht, ob sie noch leben oder was die nächsten Tage bringen werden. Die Bombardierungen zu beenden ist unerlässlich, doch das Problem reicht tiefer. Was wird aus den Palästinenser:innen im Gazastreifen, aus ihren zerstörten Häusern, Krankenhäusern und ihrer Zukunft? Es ist schwer, die Hoffnung nicht zu verlieren, aber genauso schwer, sie ganz aufzugeben. Es ist ein ständiges Auf und Ab der Gefühle.

 

Dieser Text ist eine bearbeitete Übersetzung des englischen Originals. Übersetzung von Clara Taxis.

 

© Qantara.de