Die Belagerung von Jarmuk vor Gericht

Ein Gemüsestand inmitten von Ruinen, ein junger Mann kauft ein.
Im Jarmuk-Viertel von Damaskus gibt es wieder Lebensmittel, doch die Zerstörung ist noch sichtbar. (Foto: Picture Alliance/Anadolu | H. Omer)

In Koblenz hat ein neuer Prozess gegen mutmaßliche syrische Täter begonnen. Es ist der erste seit dem Sturz Assads vor knapp einem Jahr – und der erste weltweit, in dem Hunger als Kriegsverbrechen angeklagt wird.

Von Hannah El-Hitami

Die beiden Frauen dürften ausgemergelt gewesen sein, als sie den Checkpoint am nördlichen Ende von Jarmuk erreichten, wo Mahmoud A. sie angehalten haben soll. Es war ein Tag im Jahr 2014; die vollständige Belagerung des palästinensischen Viertels im Süden von Damaskus dauerte bereits seit Juli 2013 an. Mit einem grünen Plastikrohr habe Mahmoud A. auf sie eingeschlagen, heißt es in der Anklage. In ihrem Zustand können die Frauen kaum Widerstand geleistet haben.

Inmitten der Massen, die zur Abholung von Lebensmittelpaketen gekommen waren, sollen sie zu Boden gefallen und in einer allgemeinen Panik niedergetrampelt worden sein. „Selbst in dieser hilflosen Lage schlug er weiter auf sie ein.“ Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft hat sich Mahmoud A. damit des Aushungerns als Kriegsverbrechen schuldig gemacht: Er habe die Frauen daran gehindert, die dringend benötigten Nahrungsmittel zu bekommen.

Mahmoud A. ist einer von fünf Männern, die in Deutschlands jüngstem Syrien-Prozess wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt sind. Das Oberlandesgericht Koblenz, bekannt für sein wegweisendes Verfahren gegen zwei ehemalige syrische Geheimdienstmitarbeiter, ist damit erneut Schauplatz für die Verfolgung von Verbrechen des Assad-Regimes und seiner verbündeten Milizen.

Unter Anwendung des Weltrechtsprinzips können deutsche Behörden schwere internationale Verbrechen verfolgen, die in Syrien begangen wurden, auch wenn diese keinen direkten Bezug zu Deutschland haben. Davon haben sie in den letzten Jahren immer wieder Gebrauch gemacht. 

Doch dieser Prozess ist anders: Es ist der erste nach dem Sturz des Regimes von Baschar al-Assad im Dezember 2024 – und der erste überhaupt, in dem Hunger als Kriegsverbrechen angeklagt wird. Viele sehen ihn als Wendepunkt, wenn es um die Verfolgung dieses besonders grausamen Verbrechens geht, das in der internationalen Strafverfolgung lange vernachlässigt worden ist.

Palästinensische Milizen für Assad

Mehr als zehn Jahre nach der mutmaßlichen Tat ist Mahmoud A. nicht mehr der stämmige, tätowierte Milizionär, den Fotos von 2014 im Internet zeigen. Er trägt Handschellen und wird im Rollstuhl in den Koblenzer Gerichtssaal geschoben. Im Zuschauerraum springt eine Frau auf und winkt ihm zu. 

An diesem Eröffnungstag am 19. November nehmen Freunde und Familienangehörige der Angeklagten etwa die Hälfte der Holzbänke im Gerichtssaal ein. Als Mahmoud A.s Mitangeklagte nacheinander mit gefesselten Händen und Füßen hereinschlurfen, weinen manche der Angehörigen, während andere ihnen zulächeln, winken oder sie mit Handzeichen ermutigen, ruhig zu bleiben.

Ein Mann in Handschellen verdeckt im Gerichtssaal sein Gesicht mit einem Umschlag.
Einer der Angeklagten vor dem Oberlandesgericht Koblenz. (Foto: Picture Alliance/ dpa | T. Frey)

Die Liste der Vorwürfe gegen sie ist lang. 2012 sollen Mahmoud A., Wael S., Sameer S. und Jihad A. der syrisch-palästinensischen Miliz „Free Palestine Movement“ beigetreten sein. Diese unterstützte das Assad-Regime ab 2012 dabei, die regierungskritischen Proteste in Jarmuk zu unterdrücken und die Belagerung des Stadtteils durchzusetzen.

Der fünfte Angeklagte, Mazhar J., soll Mitarbeiter der sogenannten Palästina-Abteilung des syrischen Geheimdienstes gewesen sein, wo „meist willkürlich verhaftete Menschen gefoltert und unter lebensfeindlichen Bedingungen festgehalten wurden, manchmal über mehrere Jahre hinweg”. 

Eine beträchtliche Anzahl von Gefangenen starb laut Anklageschrift „infolge der Folter und Haftbedingungen“. Mazhar J. soll für die Verhaftung und Misshandlung von Zivilist*innen in den Geheimdienstabteilungen sowie für die gewaltsame Unterdrückung der Einwohner*innen von Jarmuk mitverantwortlich gewesen sein.

„Du spielst mit deinem Leben“

Einer der Vorfälle, die die Vertreterinnen der Bundesanwaltschaft beschreiben, ist eine Demonstration am 13. Juli 2012 in Jarmuk. Nach dem Freitagsgebet habe sie sich auf der Palästina-Straße in Richtung Norden bewegt, wo die Demonstranten von Sicherheitskräften konfrontiert worden seien. 

„Unerwartet eröffneten mehrere Personen, darunter die Angeklagten, gezielt das Feuer auf die Demonstranten. Drei Menschen wurden durch diese Schüsse getötet, darunter Iyas Fahad, der zum Zeitpunkt der Tat 21 Jahre alt war.“

Als das Opfer erwähnt wird, beginnt ein großer Mann mit lockigem Haar und müdem Gesicht leise zu weinen. Der Vater von Iyas Fahad hat sich dem Verfahren als Kläger angeschlossen. In Begleitung seiner Anwält*innen sitzt er auf der linken Seite des Gerichtssaals, den Angeklagten gegenüber. 

Laut Anklageschrift hätten die Angeklagten ihn in den Tagen nach dem Tod seines Sohnes schikaniert. Das Regime habe ihn zwingen wollen, eine Sterbeurkunde mit einer falschen Todesursache zu akzeptieren, aber er habe sich geweigert. „Du spielst mit deinem Leben“, sollen sie zu ihm gesagt haben. „Reicht es nicht, dass du einen Sohn verloren hast? Willst du noch einen verlieren?“

Neben diesem Vorfall und der Misshandlung der beiden Frauen am Kontrollpunkt beschreiben die Staatsanwältinnen weitere Vorfälle, die einen oder mehrere der Angeklagten betreffen: Schüsse auf Demonstrant*innen, Schläge und willkürliche Verhaftungen von Zivilist*innen an Checkpoints, deren Überstellung an Geheimdienstabteilungen, wo sie später starben. Mindestens sechs Menschenleben sollen die Angeklagten auf dem Gewissen haben. 

Im Anschluss an die Anklage verliest der Verteidiger von Samir S. einen langen Antrag, in dem er das Gericht auffordert, die Anklage gegen seinen Mandanten fallen zu lassen. Dieser habe nie eine Waffe besessen oder sei Mitglied einer Miliz gewesen. Die anderen Angeklagten und ihre Anwälte haben sich zu den Vorwürfen noch nicht geäußert.

Laut Anklageschrift soll auch Moafak Doua an mehreren der Verbrechen beteiligt gewesen sein. Der syrisch-palästinensische Milizionär wurde im Februar 2023 in Berlin zu lebenslanger Haft verurteilt, weil er in Jarmuk in eine Menschenmenge geschossen hatte, die auf Lebensmittel wartete. 

Ein weiterer Mann, Mahmoud Sweidan, soll in einigen Fällen die Befehle erteilt haben. Er wanderte später nach Schweden aus, wo er letztes Jahr zeitgleich mit den Koblenzer Angeklagten festgenommen wurde und derzeit wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen vor Gericht steht.

Jarmuk verstehen

Warum palästinensische Milizen im Auftrag von Assad palästinensische Zivilist:innen getötet haben sollen, ist nicht einfach zu verstehen. Während die palästinensische Gemeinschaft in Syrien oft als homogen dargestellt wird, gab es in Wirklichkeit viele verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Positionen gegenüber der syrischen Revolution, die sich teilweise mit der Zeit wandelten. 

Ihre Standpunkte wurden durch verschiedene Faktoren geprägt. Unter anderem spaltete das Assad-Regime die palästinensische Gemeinschaft, indem es sich in palästinensische Politik einmischte und dabei einige politische Strömungen unterstützte und andere bekämpfte. Außerdem spielte für Palästinenser*innen in Syrien nicht nur die Behandlung durch das Assad-Regime eine Rolle, sondern auch die Unzufriedenheit mit den palästinensischen Milizen, die in seinem Auftrag die palästinensischen Viertel kontrollierten.

Bei Ausbruch der syrischen Revolution 2011 lebten etwa 560.000 Palästinenser:innen in Syrien, etwa ein Drittel in Jarmuk. Die meisten waren nach der Nakba gekommen, der gewaltsamen Vertreibung der Palästinenser:innen aus ihrer Heimat m Zuge der Gründung des israelischen Staates, andere nach dem Sechstagekrieg 1967. 

Syrien war damals eines der gastfreundlichsten Länder und gewährte den Palästinenser:innen fast die gleichen Rechte wie den syrischen Staatsbürger:innen. Flüchtlingslager waren keine marginalisierten Ghettos; Orte wie Jarmuk wurden zu integralen Bestandteilen der syrischen Hauptstadt.

Heute ist von dem einst pulsierenden Stadtteil und Handelszentrum Jarmuk nicht mehr viel übrig. Luftangriffe des Regimes haben die meisten Gebäude zu grauen Betonskeletten oder Trümmerhaufen reduziert. Jarmuk war im Syrienkrieg eines der am stärksten und am längsten umkämpften Gebiete. 

Zu Beginn des Aufstands 2011 waren viele palästinensische Syrer:innen noch unschlüssig, ob sie an den Protesten teilnehmen sollten. Doch Jarmuk wurde schnell zu einem Ziel für vertriebene Syrer*innen aus anderen Landesteilen. Zehn- bis Hunderttausende Menschen nahm der Stadtteil damals Schätzungen zufolge auf. Zugleich war er eine Art Pufferzone zwischen dem Zentrum von Damaskus und den südlichen Vororten, wo Rebellengruppen schnell an Stärke gewannen.

Jarmuk wurde von Rebellenführern oft als die „Lunge” beschrieben, durch die sie atmeten. Verwundete wurden dort behandelt, Familien von Kämpfern fanden Unterschlupf, und Jugendliche aus dem Stadtteil halfen teilweise beim Schmuggeln von Waffen und Munition. Während lokale Interessengruppen darauf drängten, dass Jarmuk neutral bleiben sollte, wuchs der Widerstand der palästinensischen Syrer*innen mit der Unterdrückung durch das Regime in dem Stadtteil und an seinen Grenzen.

Im Juli 2012 griff die bewaffnete Rebellengruppe Freie Syrische Armee (FSA) das Zentrum von Damaskus von den südlichen Vororten aus an, die an Jarmuk grenzen. Nur wenige Monate später begannen die Luftangriffe des Regimes auf Jarmuk. Das Viertel wurde schnell von oppositionellen Kräften eingenommen. Das Assad-Regime und seine Milizen reagierten darauf mit einer Belagerung Jarmuks. 

Es war eine der ersten Belagerungen des Krieges und sollte die brutalste werden. In den folgenden drei Jahren starben Hunderte am Hunger. Schockierende Berichte Überlebender beschreiben, dass Menschen Katzen und Hunde aßen, um nicht zu verhungern. Viele wurden von Scharfschützen bei dem Versuch getötet, auf Feldern und in Parks essbares Grünzeug zu finden. 2015 beschrieb UN-Generalsekretär Ban Ki-moon Jarmuk als den „tiefsten Kreis der Hölle”.

Aushungern als Kriegsverbrechen

Dies ist der Hintergrund der Anklage in Koblenz. „Während die Bewohner den Stadtteil zunächst unter strengen Repressalien verlassen oder betreten konnten, wurde er ab Juli 2013 vollständig abgeriegelt“, heißt es darin. Die Staatsanwaltschaft erklärte, dass die Milizen „Free Palestine Movement“ und „PFLP-GC“, denen vier Angeklagte angeblich angehörten, an der Belagerung beteiligt waren. „Es war nicht mehr möglich, Lebensmittel und Medikamente zu kaufen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war die humanitäre Lage katastrophal.“

Zwar erlaubte das syrische Regime der UN-Agentur für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) Anfang 2014, humanitäre Hilfe nach Jarmuk zu liefern. Doch diese mussten die Bewohner:innen im vom Regime kontrollierten Norden von Jarmuk abholen, „wo sie Gefahr liefen, Gewalt ausgesetzt zu sein. Dennoch gingen viele Menschen an den Verteilungstagen hin, um sich und ihre Familien vor dem Hungertod zu bewahren.“

Es ist das erste Mal, dass Aushungern als eigenständiges Kriegsverbrechen vor Gericht gebracht wird. Als Anklage ist es bereits im November 2024 erstmals aufgetaucht in den Haftbefehlen des Internationalen Strafgerichtshofs gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und den ehemaligen Verteidigungsminister Yoav Gallant.

„Hunger wurde lange Zeit eher als humanitäres Problem wahrgenommen und nicht als völkerrechtliche Straftat“, sagt Catriona Murdoch von der niederländischen Menschenrechtsorganisation Videre. Sie ist eine der weltweit führenden Expertinnen zum Aushungern als Kriegsverbrechen. „Hunger wurde als etwas angesehen, das im Krieg einfach passiert – Vorräte gehen zur Neige, Menschen sind auf der Flucht – als unvermeidliche Folge.“

Murdoch hat mit syrischen NGOs die Belagerung von Jarmuk analysiert und war auch mit der Bundesanwaltschaft zum deutschen Fall im Austausch. Für sie zeigen die Belagerungen in Syrien eindeutig die kriminelle Intention, die Hungerskrisen zugrunde liegt. „Das Motto des syrischen Regimes lautete: ‚Kniet nieder oder verhungert‘. So sprühten sie es in vielen syrischen Städten auch an die Mauern.” 

Zwar ist das Aushungern nur ein kleiner Teil der Anklage in Koblenz. Doch der Prozess könnte die allgemeinen Muster des Belagerns und Aushungerns von Zivilist:innen im syrischen Kontext veranschaulichen, sagt Murdoch. Sie hofft, dass dieser erste Fall andere Justizbehörden ermutigt, Aushungern als Kriegswaffe zu verfolgen, zum Beispiel im Hinblick auf Gaza oder den Sudan.

Laut Murdoch ist Jarmuk ein eindeutiger Fall und ein guter Ausgangspunkt, um die verheerenden Auswirkungen dieses Verbrechens aufzuzeigen. Von psychischen Traumata über Bildungsschwierigkeiten und Wachstumsstörungen bei Kindern bis hin zu wirtschaftlichen Hemmnissen und niedrigeren Geburtenraten: „Es ist ein langsam schwelendes Verbrechen, das sich auf die folgenden Generationen auswirkt.“

 

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