"Ob Allah oder Jesus spielt keine Rolle“
Das große Gemälde ist nicht zu übersehen. Dick eingerahmt zeigt es den Propheten Mohammed, seine Tochter Fatima und deren Mann, den Kalifen Ali. Für die Glaubenswächter in Mekka und Teheran wäre das schlimme Gotteslästerung, doch vom Bilderverbot im Islam hält Edmond Brahimaj wenig. Das geistliche Oberhaupt der Bektaschi-Muslime, den alle Baba Mondi nennen, sitzt in der Zentrale des Sufi-Ordens in Tirana unter dem Gemälde und sagt: "Das sind meine Eltern. Bilder von seiner Familie aufzuhängen, ist ganz normal.“ Toleranz ist eines der höchsten Prinzipien der schiitischen Bektaschi, bei denen Frauen kein Kopftuch tragen und in der Tekke, dem Gotteshaus, gemeinsam mit den Männern beten.
Baba Mondi hat Wichtiges vor an diesem Abend im August 2020: Gerade findet das fünftägige Pilgerfest statt, für das tausende Albaner aus dem ganzen Land in ihren Geländewagen und alten Mercedes-Karossen eine holprige, staubige Piste hinauf tuckern, auf den Berg Tomorr im südlichen Albanien. Auf dem Gipfel vermischt sich Motorenlärm mit lauter Musik, Familien picknicken auf den Wiesen und vor Zelten, in denen sie übernachten werden. Die Stimmung ist eine Mischung aus Familienfest und Open-Air-Festival.
An den Marktständen auf dem Berg liegt das Heilige neben dem Profanen: Einen Tisch entfernt von Souvenirs mit Ikonen von Imam Hussein verkaufen Händler Bierdosen und Raki, einen hochprozentigen Schnaps.
Alkohol ist bei den schiitischen Bektaschi von ganz oben abgesegnet – in der Empfangshalle bei Baba Mondi in Tirana sind zwei Flachmänner in einer Vitrine ausgestellt, die ehemaligen Derwischen gehörten.
Auf dem Berg Tomorr liegen einige Derwische begraben. Auf ihre Schreine legen Männer in kurzen und Frauen in noch kürzeren Hosen Fotos von Angehörige, verbunden mit der Bitte, diese zu segnen.
Später sucht sich jede Familie ein Schaf aus, dem die Metzger in der Schlachtstraße die Kehle durchschneiden. Vom frischen Blut tupfen sich die Pilger einen Punkt auf die Stirn, das bringe Glück, sagen sie, man habe das schon immer so gemacht. Das Pilgerfest basiert mehr auf Brauchtum als auf tiefer Religiosität.
Spiel mit verschiedenen Identitäten
Ein blutiger Fingerabdruck prangt auch auf Festim Shametajs Stirn, um seinen Hals hängt ein markantes goldenes Kreuz, ein Geschenk seiner christlichen Schwägerin. «Ob Allah oder Jesus, das spielt doch keine Rolle», sagt er.
Die Minderheit der heterodoxen Bektaschi, die den Aleviten aus der Türkei ähnlich sind, passt zu Albanien: Die sunnitische Mehrheit lebt friedlich mit ihnen, den Katholiken und orthodoxen Christen zusammen. Gemeinsame Feste und gemischte Ehen sind weit verbreitet. In Albanien, seit 2014 offiziell ein Kandidat für den Beitritt in die EU, findet man immer wieder Menschen, die sich selbst als halb islamisch und halb christlich bezeichnen.
2014 sagte Papst Franziskus, die religiöse Toleranz der Balkan-Nation diene als Vorbild für die Welt. Das tolerante Land ist gleichzeitig auch das säkularste in der islamische Welt: Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Gallup hat Albanien von allen Ländern mit muslimischer Mehrheit den größten Anteil an Menschen, die Religion für ihren Alltag als irrelevant bezeichnen.
Religiöse Flexibilität zeigte sich hier bereits im späteren Mittelalter, als Albanien immer wieder zwischen West und Ost umkämpft war. Siegte der Westen, nahmen die Lehnsherren den Katholizismus an, wenn das Byzantinische Reich vorherrschte, unterstützten sie die orthodoxe Kirche. Im 16. Jahrhundert traten weite Teile der Bevölkerung unter osmanischer Herrschaft zum Islam über, manche aus Überzeugung, andere unter Zwang oder aufgrund ökonomischer Anreize.
Bei der Islamisierung spielten die Bektaschi eine wichtige Rolle: Sie waren die spirituellen Begleiter der Janitscharen, der Elitetruppe der Osmanen. Wie viele Menschen sich heute noch als Bektaschi bezeichnen, ist umstritten. Baba Mondi behauptet, die Hälfte der knapp drei Millionen Einwohner des Landes folge ihm. Laut Zensus sind es 60.000, allerdings verzichtet ein Fünftel der Befragten auf die Angabe zur Religionszugehörigkeit.
Repression im ersten "atheistischen Staat" der Welt
In der jüngeren Geschichte prägte vor allem der kommunistische Diktator Enver Hoxha das Land. Er erklärte Albanien 1967 zum ersten «atheistischen Staat» der Welt, ließ praktizierende Gläubige verhaften oder hinrichten; Kirchen, Moscheen und die Tekken der Bektaschi wurden enteignet oder zerstört.
Hoxhas antireligiöser Eifer war so groß, dass ihn sogar Stalin darauf hinwies, er solle die religiösen Gefühle des Volkes nicht verletzen.
Angst vor Hoxhas Repressionen war Teil der Kindheit von Ylli Gurra, dem Mufti von Tirana, der 1973 in eine religiöse Familie geboren wurde. Er erinnert sich, wie die Sigurimi, die Geheimpolizei, in den Nächten während des Ramadan umherzog und Muslime kontrollierte.
Einmal, Gurra war noch ein Schulkind, stürmten sie ins Haus und verhafteten seinen Großvater. Nach drei Tagen Folter ließen sie ihn gehen. Die geteilte Erfahrung, unterdrückt zu werden, habe die Religionen verbunden, sagt Gurra.
Nach dem Zusammenbruch des Regimes 1990 versuchten die verbliebenen Gläubigen, ihre Gemeinschaften wiederzubeleben. Rasch brachten die Golfstaaten Geld ins Land, wodurch zwei- bis dreihundert inoffizielle Hinterhof-Moscheen entstanden, in denen Imame mit ausländischer Ausbildung ihre Ideologien verbreiteten.
Zwischen ihnen und den Alteingesessenen entwickelte sich ein Kampf um die Auslegung der Religion. Die islamistischen Einflüsse wurden lange unterschätzt und viele waren überrascht, als nach dem Arabischen Frühling über 140 Albaner loszogen, um für den selbsternannten Islamischen Staat im Irak oder in Syrien zu kämpfen. «Wir haben Fehler gemacht», gibt Ylli Gurra offen zu. Die etablierten Religionsgemeinschaften hätten es verpasst, die inoffiziellen Moscheen zu beaufsichtigen. In den vergangenen Jahren hätten sie nun gemeinsam mit dem Staat wieder die Kontrolle übernommen, sagt er.
Die Moscheen wurden entweder registriert oder geschlossen und die Imame von offizieller Seite eingestellt. «Wir haben unsere Lektion gelernt», sagt Gurra, «wir müssen uns ständig dafür einsetzen, die religiöse Toleranz hochzuhalten, sie ist nicht selbstverständlich.» Hierbei kann er auf die Unterstützung von Baba Mondi und der Bektaschi zählen.
Karin A. Wenger und Philipp Breu (Fotos)
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