„Vergessen ist ein Segen”
Einer der prominentesten Intellektuellen des Libanon, Elias Khoury, ist am Sonntag im Alter von 76 Jahren nach Monaten der Krankheit gestorben. Als führende Persönlichkeit der arabischen Literatur, als anerkannter Autor von Romanen und Drehbüchern sowie als Kritiker war er auf internationalen Bühnen zu Hause, nachdem sein Werk aus dem Arabischen ins Englische, Französische, Deutsche, Spanische, Hebräische und andere Sprachen übersetzt worden war.
In Beirut war Khoury Professor an der American University of Beirut, darüber hinaus führte ihn sein Ruf als Romanautor in die USA und nach Großbritannien, wo er an Universitäten wie Columbia, Princeton, der New York University (NYU) und der University of London lehrte. Als er starb, sagte mir die arabisch-amerikanische Schriftstellerin Diana Abu-Jaber über Khourys schriftstellerische Fähigkeit, Grenzen zu überschreiten: „Seine Bücher gaben nicht nur einen tiefen Einblick in die arabische Welt, sondern auch in die menschliche Erfahrung”.
Elias Khoury wurde 1948, im Jahr der palästinensischen Nakba, in eine christliche Familie des Beiruter Mittelstands geboren. Der palästinensische Kampf prägte Khourys Leben im Libanon weiter, als er sich Ende der 1960er Jahre entschloss, der Fatah, dem bewaffneten Flügel der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), beizutreten.
Sein 1981 auf Arabisch erschienener Roman al-wudschuh al-bayda („Die weißen Gesichter”), der wie so viele Werke vom libanesischen Bürgerkrieg (1975-1990) handelt, erregte die Aufmerksamkeit der PLO, da er Details über verschiedene Fraktionen der Organisation enthüllte. Die PLO nahm das Buch für einige Jahre aus dem Buchhandel, bis Khoury eine Artikelreihe über die israelische Invasion Beiruts veröffentlichte und daraufhin rehabilitiert war.
"Beirut hat sich immer gegen Repression aufgebäumt"
Lange Zeit blickten Kulturschaffende bewundernd auf den Libanon und sein Klima der Freiheit. Beirut empfing die arabischen Intellektuellen und feierte sie, als gäbe es keine Repression. Auch nach dem Mord an Luqman Slim sind die bestimmenden Kräfte im Land nicht in der Lage, alle Lebensbereiche zu kontrollieren. Ein Essay von Elias Khoury
„Die weißen Gesichter” war nicht der einzige Anlass für Zweifel an Khourys Glaubwürdigkeit als Revolutionär. In einem Interview sagte er 2021, auch sein Roman al-dschabal al-saghir („Der kleine Berg”), den er zu Beginn des Bürgerkriegs schrieb, hätte Misstrauen hervorgerufen: „Jeder, der es las, dachte, ich sei kein richtiger Revolutionär, da ich kämpfte und gleichzeitig in meinen Texten den Bürgerkrieg kritisierte.”
Er erklärt diesen Zweifel mit einem „Widerspruch zwischen der euphorisch-optimistischen Ideologie, mit der wir lebten, und dem, was ich schrieb“. Die dissonante Realität des Bürgerkriegs und einer Nation, unfähig, sich mit ihrem eigenen selbstzerstörerischen Wahnsinn zu versöhnen, wird im Roman durch die Figur eines in Widersprüchen gefangenen Kämpfer-Intellektuellen angedeutet, der Khourys eigene Zerrissenheit widerspiegelt.
Manche würden sagen, der selbsternannte „Kämpfer“ habe die Politik gegen die Literatur eingetauscht, als Khoury die Fatah und die Libanesische Nationalbewegung (eine linke, pro-palästinensische Gruppierung, die im Bürgerkrieg aktiv war) verließ. Doch es ist schwierig, zwischen dem kreativen und dem politischen Werk von Elias Khoury zu unterscheiden – seine Schriften beschreiben sowohl die makro- als auch die mikropolitische Ebene anhand von Krieg, familiärem und nationalem Trauma, privatem und öffentlichem Kummer und der Erinnerung an all dies.
Mit der 2004 erschienenen deutschen und der zwei Jahre später veröffentlichten englischen Übersetzung seines Romans „Tor der Sonne“ (arabisches Original von 1998) erhielt Khoury erneut internationale Anerkennung. Als „Epos des palästinensischen Volkes“, wie es eine Hauptfigur des Romans nennt, erzählt er zahlreiche historische Ereignisse in Form von persönlichen, familiären, von Trauer geprägten, exilbezogenen, romantischen, heroischen und verwirrenden Erzählungen des palästinensischen Volkes – obwohl die Geschichte natürlich nicht von einem Palästinenser geschrieben wurde.
Der Roman beginnt mit einem Arzt, in einem Krankenhaus eines Flüchtlingslagers in Beirut, der einem im Koma liegenden alten Mann Geschichten erzählt. Im Laufe dieser Geschichten offenbart sich langsam die tiefergehende Beziehung zwischen den beiden Figuren – der alte Mann im Koma ist ein palästinensischer Freiheitskämpfer, der Arzt sein Adoptivsohn.
Die Erzählungen des Arztes führen durch die Geschichte, von 1948 bis zur Gründung der PLO, zum Sechstagekrieg und der Intifada, von den Flüchtlingslagern zu den Schauplätzen von Massakern und Schlachtfeldern. Wie eine moderne Scheherazade, die Geschichten erzählte, um am Leben zu bleiben, versucht der Arzt, den sterbenden Freiheitskämpfer am Leben zu erhalten – oder vielleicht, ihn aufzuwecken.
Der Satz „Wir vergessen und Vergessen ist ein Segen” wird oft aus dem Roman zitiert. Der Arzt, der versucht, seinen Patienten zum Aufwachen zu bewegen, plädiert eindringlich: „Wir erinnern, um zu vergessen, das ist die Essenz des Spiels. Aber wage es nicht, jetzt zu sterben!”
Khoury selbst betonte die Notwendigkeit, das Trauma loszulassen, schlicht um leben zu können – um, wie man sagt, „resilient“ zu sein. Im dem Interview von 2021 sagt er: „Es ist eine menschliche Notwendigkeit zu vergessen. Die Menschen müssen vergessen. Wenn ich meine Freunde, die im Bürgerkrieg gestorben sind, nicht vergesse, kann ich nicht leben, kann ich weder essen noch trinken ...“
Verstörendes Gefühl von Fremdheit
"The Broken Mirrors: Sinalcol" ist zwar bereits 2012 auf Arabisch erschienen, wurde aber erst in diesem Jahr ins Englische übersetzt. Der Roman enthält viele Motive, die aus dem Werk von Elias Khoury vertraut sind: Perspektivwechsel, einen unzuverlässigen Erzähler, dunkle Erinnerungen, ungewisse Wahrheiten und Reflektionen über das Erzählen selbst. Von Nahrain al-Mousawi
Doch um schreiben zu können und zu heilen, muss das tragische Ereignis selbst enden. Der libanesische Bürgerkrieg ging zu Ende, doch für den palästinensischen Kampf gilt das nicht. Wie Khoury in einem Interview von 2018 ausführte: „Normalerweise, wenn die Tragödie endet, schreibt man sie auf. Und das Schreiben wird zu einem Akt des Heilens, einer Möglichkeit zu vergessen. Wenn du deinen Schmerz zum Momentum machst, vergisst du ihn. Im Fall von Palästina kann man aus dem Schmerz kein Momentum machen, weil er noch immer präsent ist.”
Beim Vergessen geht es aber auch darum, die Last der Erinnerung abzulegen, welche von der nächsten Generation als Erbe aufgegriffen werden kann. Wie der Arzt zu seinem Adoptivvater in „Das Tor zur Sonne” sagt: „Du musst erst dein Vergessen ordnen, sodass ich mich hinterher erinnern kann.” Im Fall von Elias Khoury hoffe ich, dass wir uns immer an sein Vermächtnis erinnern werden, besonders weil so viel der Gewalt und der Brutalität, die er aufschrieb und nacherzählte, noch immer unsichtbar gemacht wird.
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