"Wir geben keine Antworten, wir stellen Fragen“ 

Ofira Henig ist eine der renommiertesten Theaterschaffenden Israels. Sie war die Leiterin des israelischen Theaterfestivals und wurde als einzige Regisseurin mit dem israelischen Theaterpreis ausgezeichnet. In ihrer Heimat arbeitet sie heute jedoch kaum noch. Ceyda Nurtsch stellt sie vor.   

Von Ceyda Nurtsch

"Wir müssen Geschichten erzählen, um uns zu erinnern. Und, um zu vergessen.“ So reflektiert der Erzähler zum Ende des Stücks "The Queen commanded Him to Forget“, das unter der Leitung von Ofira Henig und Khalifa Natour im Oktober im Berliner Pierre-Boulez-Saal Weltpremiere feierte. Es ist ein Stück über eine Mutter, die in Kriegszeiten alles tut, um ihre zwei Kinder, ein Mädchen und einen Jungen, zu schützen.



Ein Stück, das zudem die Frage stellt: Welche Rolle spielt Literatur beim Erinnern, Verarbeiten und Vergessen von Geschichten und Geschichte? Das Stück, gespielt von einem Ensemble aus sechs Schauspielerinnen und Schauspielern, basiert auf Teilen des bislang nur ins Englische übersetzten Romans "The Children of the Ghetto: My Name is Adam“ des libanesischen Autors Elias Khoury. Außerdem enthält es Einflüsse von Brechts "Mutter Courage“, sowie des Märchens "Hänsel und Gretel“. 

Die Inszenierung balanciert auf einem schmalen Grat. Ist der Erzähler, der durch das Stück führt und mal mit dem Publikum, mal mit den Figuren redet, ein arabischer Geschichtenerzähler oder ein Kommentator im Brecht’schen Sinn? Ist die stilisierte Darstellung der beiden Kinder eine Referenz an orientalische Theaterformen? Ist die Verkörperung der Mutter, Um Hassan, durch einen Mann, eine Referenz an die Darstellung von Frauen durch Männer seit dem antiken Theater? Oder dient beides einer Verfremdung wieder im Sinne Brechts und einer Abstraktion?



Mit den von ihr eingesetzten Mitteln zeigt die Inszenierung vor allem eins: Die Universalität der Themen Krieg, Gewalt, Verlust. Es geht um den israelisch-palästinensischen Konflikt und gleichzeitig um die Kriege dieser Welt. 

Szene aus dem Theaterstück The Queen Commanded Him to Forget von Ofira Henig; Foto: Peter Adamik
Eine Szene aus dem Stück "The Queen commanded Him to Forget“, das unter der Leitung von Ofira Henig und Khalifa Natour im Oktober im Berliner Pierre-Boulez-Saal Weltpremiere feierte. Das Stück basiert auf Teilen des bislang nur ins Englische übersetzten Romans "The Children of the Ghetto: My Name is Adam“ des libanesischen Autors Elias Khoury. Die Erarbeitung des Stücks sei ein ganz besonderer Prozess gewesen, sagt Henig. "Ich hatte die hebräische Übersetzung von Khourys Werk gelesen. Die haben wir erst ins Arabische übertragen. Dann haben wir bei den Proben manchmal einzelne Wörter lange abgewogen und mit den Schauspielern, die teilweise unterschiedliche arabische Dialekte sprechen, diskutiert.“

 

"Es geht um Vertrauen“ 

Für die mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete israelische Regisseurin Ofira Henig ist es das erste Stück, dass sie auf Arabisch inszeniert. Die Erarbeitung des Stücks sei ein langer und ganz besonderer Prozess gewesen, erzählt die zierliche Frau mit leiser Stimme. "Ich hatte die hebräische Übersetzung von Khourys Werk gelesen. Die haben wir erst ins Arabische übertragen.



Dann haben wir bei den Proben manchmal einzelne Wörter lange abgewogen und mit den Schauspielern, die teilweise unterschiedliche arabische Dialekte sprechen, diskutiert. Bei so einem Prozess geht es im Grunde darum, einander zuzuhören und um Vertrauen.“ 

Mit ihrem künstlerischen Partner, dem Dramaturgen und Schauspieler Khalifa Natour, hat Hening bereits auf vielen Bühnen dieser Welt zusammengearbeitet. Gerne würden viele in Europa und in den USA und auch die israelische Regierung das als "sexy israelisch-palästinensische Kooperation“ verkaufen.



Doch dieses Spiel spiele sie nicht mit, sagt sie. "Wir sind kein Koexistenz-Projekt“, betont sie. "Denn eine Koexistenz gibt es nicht.“ Seit langem akzeptiert sie keine Förderung durch israelische Institutionen mehr. 

Die israelische Theaterregisseurin Ofira Henig; Foto Gerard Alon
Die preisgekrönte Theaterregisseurin Ofira Henig war Teil einer progressiven linken Theaterszene in Israel, die in den 1980ern und Anfang der 1990er Jahre "politisch und mutig“ war. Doch parallel zur politischen Entwicklung in Israel wurden auch die Theater "immer mehr bourgeois und kommerziell“. Sie und ihre Arbeit wurde im Gegenzug immer ernster, radikaler, intellektueller. Heute arbeitet sie überwiegend in Berlin und in der Welt. In Tel Aviv unterrichtet sie nur noch. In Berlin, der Berliner Theaterlandschaft und dem offenen diversen Berliner Publikum habe sie Heimat gefunden, erzählt sie.  

Eine entwurzelte Künstlerin 

Als künstlerische Leiterin verschiedener Theater war Ofira Henig Teil einer progressiven linken Theaterszene in Israel, die in den 1980ern und Anfang der 1990er Jahre "politisch und mutig“ war, wie sie sagt. Doch parallel zur politischen Entwicklung in Israel wurden auch die Theater "immer mehr bourgeois und kommerziell“.



Henig und ihre Arbeit wurden im Gegenzug immer ernster, radikaler, intellektueller. Als das israelische Kulturministerium allen staatlich subventionierten Theatern vorschreibt, in den besetzten Gebieten zu spielen und sich in die Auswahl der Stücke und der Schauspieler einmischt, ist sie Leiterin des Stadttheaters Herzliya und widersetzt sich.



Der politische und künstlerische Druck auf sie wird immer stärker. Sie merkt, dass ihr die Situation entgleitet. Schließlich weist man ihr die Tür.  



Doch sie führt ihn fort, ihren nie endenden Dialog mit dem Publikum. In Berlin und in der Welt. In Tel Aviv unterrichtet sie nur noch. In Berlin, der Berliner Theaterlandschaft und dem offenen und diversen Berliner Publikum habe sie Heimat gefunden, erzählt sie.  

Im Theater, erklärt Ofira Henig, gehe es darum, eine alternative Realität zu erzeugen. Hier sei es manchmal leichter als im wahren Leben, unterschiedliche Narrative nebeneinander stehen zu lassen. Es ginge darum, einen Raum zu schaffen, der sich mit ethischen Fragen befasst. Einen Raum, in dem  überhaupt Fragen gestellt werden können.



"Theater soll berühren und nachdenklich machen. Es ist politisch, nicht in dem Sinne von Nachrichtenschlagzeilen, sondern im Sinne von Fragen der Moral. Es geht nicht darum, das Publikum zu erziehen. Das ist keine Kunst. Theater basiert auf Konflikt und bildet diesen Konflikt ab“, so Henig. 

Auch in ihrem aktuellen Projekt, "Listen to my Story“, widmet sie sich brisanten und gleichzeitig universellen Themen. Das Kinder-Musikstück, das im Frühjahr 2023 im Boulez-Saal aufgeführt wird, verhandelt das Thema Migration zwischen Orten, Kulturen und Sprachen.



In dem Stück, einer Koproduktion von jungen Mitglieder ihres Ensembles mit Studierenden der Barenboim-Akademie, geht es um die Erschaffung einer imaginären Sprache, die etwas ermöglicht, wozu Wörter nicht in der Lage sind: Die Musik der menschlichen Seele zum klingen zu bringen.

Ceyda Nurtsch

 © Qantara.de 2022

"Listen to my Story“ wird am 11. April 2023 im Pierre-Boulez-Saal aufgeführt.