Assads langer Schatten

Den größten Teil meiner Kindheit haben mich meine Eltern darüber belogen, wer wir sind. Inzwischen bin ich dafür dankbar. Die Lüge bewahrte mich vor einer Überidentifikation mit meiner Religion. Die Wahrheit nicht zu kennen, ermöglichte mir, Leute erstmal als Menschen wahrzunehmen, unabhängig von ihrem Glauben oder ihren Ansichten.
Bis ins Teenageralter wusste ich nicht, dass ich Drusin bin. Das lag auch daran, dass wir Anfang der 2000er-Jahre in Saudi-Arabien lebten. Ich ging auf eine Schule, in der die wahabitische Religion den Lehrplan bestimmte. Jedes Fach basierte auf dieser konservativen Strömung des Islam – wer Recht hatte, wer falschlag, wer in der Hölle enden würde.
In diesem Umfeld verschwiegen meine Eltern mir nicht nur, dass wir Drusen sind, sie verheimlichten es aktiv. »Wir sind Muslime«, sagten sie, und ich glaubte das. Ich war ein redseliges Kind. Die Lüge sollte mich schützen. Vermutlich tat sie das auch.
Doch als wir Jahre später nach Syrien zurückkehrten, entdeckte ich Risse in der Erzählung meiner Eltern. Einmal flüsterte mir eine Verwandte zu, dass unsere Cousine mit einem Muslim aus Damaskus weggelaufen sei. Ich erinnere mich, wie ich dachte: »Aber sind wir nicht alle Muslime?«
Ich hatte noch keine Worte für Sektarismus – die Überbetonung ethnischer oder religiöser Unterschiede, die zu Ausgrenzung führen. Doch schon damals begann ich zu fühlen, dass »wir« anders waren und dass dieser Unterschied relevant war.
Religiös-identitäre Slogans in der Revolution
Die Bedeutung konfessioneller Identität wurde mir erst durch die Revolution 2011 bewusst. Als die Aufstände begannen, machte ich mit, weil wir für Gerechtigkeit kämpften. Es ging um Freiheit, Würde und Menschenrechte – universelle Werte, wie ich dachte, auf die sich alle einigen können.
Ich erinnere mich an Slogans, die uns zusammenschweißten: »Eins, eins, eins, das syrische Volk ist eins«. Ich erinnere mich an clevere Schilder aus Kafranbel und den kreativen Geist, der die Proteste prägte. Ich erinnere mich aber auch an religiös-identitäre Slogans und an die hitzigen Debatten, die wir über sie führten.
Eine Erinnerung ist mir besonders im Kopf geblieben: Eine meiner Lehrerinnen drohte einer Freundin von mir, weil sie die Revolution unterstützte. »Wenn du so weitermachst«, sagte sie, »dann kommen die Fundamentalisten. Sie werden unsere Frauen vergewaltigen und unsere Männer töten.«
Damals dachte ich: Aber ist es deswegen in Ordnung, dass Kinder in Daraa gefoltert und getötet wurden, wie es zu Beginn der Revolution geschehen war? Ist es akzeptabel, dass friedliche Protestierende bombardiert und zum Schweigen gebracht wurden – nur weil es uns nicht betraf?

Getarnte Geopolitik
Sowohl Syriens neues Regime als auch Israel nutzen ethnische und religiöse Identitäten, um ihre politischen Ziele durchzusetzen. Die jüngsten Massaker in Suwaida mit über tausend Toten machen dies auf brutale Weise deutlich.
Ich verstand diese Logik nicht, und ich verstehe sie auch heute nicht. Mir war klar: Sollte das Regime mit dem Mord an einer Syrerin oder einem Syrer davonkommen, würde es auch davonkommen, wenn es uns alle umbrächte.
Wenn ich heute, im Jahr 2025, miterlebe, wie Menschen in meiner Heimatstadt Suwaida getötet werden, weil sie als Drusen geboren wurden, kann ich nicht anders, als an die Angst zu denken, die andere vor uns empfunden haben müssen.
Assad instrumentalisierte die Minderheiten
Unter Assad war Sektarismus keine abstrakte Idee, sondern eine Realität, die sich gegen alle Syrer richtete. Nachbarn flüsterten sich Warnungen zu. Sektarismus war Teil des von Assad gepflegten Systems, in dem säuberlich unterschieden wurde, wer leben durfte und wer ohne Konsequenz getötet wurde.
Der Sektarismus in Syrien ist nicht vom Himmel gefallen, und er ist auch nicht angeboren. Madawi al-Rasheed, Professorin für Sozialanthropologie in London, schreibt, dass Sektarismus »keine inhärente, historische Charakteristik der arabischen Massen« ist. Stattdessen wird er von Diktatoren und Akteuren befeuert, die alte religiöse Identitäten politisieren, um die eigene Macht zu sichern.
Schon die französische Kolonialverwaltung institutionalisierte die konfessionelle Spaltung als Teil ihres »Teile-und herrsche«-Prinzips. Sie zersplitterte die Gesellschaft, indem sie getrennte Staaten entlang konfessioneller und ethnischer Linien schufen – etwa Alawiten- und Drusen-Staaten. Dadurch untergrub sie jedes Gefühl nationaler Einheit.
Das Assad-Regime ging dann noch weiter: Es schützte Minderheiten nicht, sondern instrumentalisierte sie.
In einem Interview mit dem Thinktank Carnegie Middle East Center erklärt der Syrienexperte Peter Harling, dass die Beziehung des syrischen Regimes zu den Minderheiten komplexer und kalkulierter war, als es das gängige Narrativ vom Schutz vermuten lässt. Laut Harling sind die Drusen brutal unterdrückt worden, die Kurden manipuliert. Den Christen habe man Schutz geboten, während man zugleich einen sunnitischen Aktivismus förderte, der ihnen Angst machte. Das Regime verließ sich auf die Loyalität der Alawiten und zementierte deren Abhängigkeit vom Staat.
Das war keine Koexistenz, sondern Kontrolle durch Angst und Fragmentierung. Die Folgen waren langanhaltend sichtbar: zerstörte Stadtviertel, Vertreibung, Destabilisierung ganzer Gemeinschaften.

„Ich bin der einzige Überlebende meiner Familie“
Überlebende der Anfang März in syrischen Küstenstädten entfesselten Gewalt erzählen Qantara ihre Geschichte. Warnung: Die Berichte enthalten Details über die wahllosen Tötung von alawitischen Zivilist:innen und können verstörend sein.
Während der Revolution und auch noch, nachdem ich ins Ausland geflohen war, hing ich an meiner Identität als Syrerin. Ich lehnte konfessionelle Labels ab und sagte mir, es sei nicht wichtig, welcher religiösen Gruppe ich angehörte.
Gleichzeitig konnte ich die Realität nicht ignorieren. Ich hatte eine komplizierte Beziehung zur drusischen Community. Ich hasste es, dass prominente Scheichs beschlossen, »neutral« zu bleiben, während jene, die Widerstand leisteten, ermordet wurden.
Ich verließ meine Heimatstadt Suwaida nach mehreren Konfrontationen und wachsender Angst. Nicht nur vor dem Regime, sondern auch vor Leuten aus meiner eigenen Gemeinschaft, die sagten: »Wir können uns nicht gegen das Regime wenden. Niemand wird uns schützen, wenn sie uns holen kommen.«
Und sie hatten recht. Ich sah, was das Regime tat. Menschen verschwanden, wurden gefoltert und getötet. Ich sah auch, dass Drusen weniger von Angriffen, Festnahmen und Morden betroffen waren als Sunniten.
Ich erinnere mich, wie ich für meine Abschlussprüfungen lernte und im Hintergrund den Lärm der Bomben auf das benachbarte Daraa hörte. Schuld und Ärger nagten an mir. Das Regime nutzte unsere Provinz, um von hier aus syrische Mitbürger zu töten.
Eines wurde schmerzhaft deutlich: Leid war nicht gleich verteilt. Manche Gruppen wurden verschont – nicht aus Wertschätzung, sondern aus politischem Kalkül. In dieser Zeit begann ich, mich zu fragen: Möchte ich Teil dieses Systems sein? Werden wir Drusen im größeren geopolitischen Konflikt einfach dem schiitischen Block zugerechnet? Diese Fragen beunruhigten mich. Also vermied ich sie.
Heute ist Assad Geschichte. Doch sein Vermächtnis ist es nicht. Seine Strategie des Sektarismus hat tiefe seelische und politische Wunden hinterlassen. Derzeit öffnen sich diese Wunden wieder.
In den vergangenen Monaten kam es zu einer Welle identitätsbasierter Gewalt: die Angriffe auf alawitische Gebiete im März 2025, die Kämpfe mit der drusischen Gemeinschaft im April und Mai in Sahnaja im Südwesten von Damaskus und das Selbstmordattentat in der Mar-Elias Kirche im Juni.
Diese Verbrechen könnten den Eindruck erwecken, dass der Sektarismus schlimmer ist als je zuvor – und dass Assad tatsächlich Minderheiten beschützt hat. Doch in Wahrheit erleben wir gerade, wie sich die jahrzehntelange Spaltung entlang konfessioneller Identitäten durch Assad offen zeigt. Was einst mit autoritärem Stillschweigens niedergehalten wurde, wird nun ausgesprochen.
In den Massakern in meiner Heimatstadt Suwaida im Juli verlor ich Cousins, Freunde, Menschen, die ich liebte. In den darauffolgenden Tagen sah ich Ordner mit Bildern von bis zur Unkenntlichkeit entstellten Leichen durch und versuchte, die Vermissten zu identifizieren – so wie wir es einst mit den Bildern taten, die unter dem Decknamen »Caesar« von Überläufern der syrischen Militärpolizei aufgenommen worden waren.
Aber dieses Mal war es die Übergangsregierung, jene Leute, die ein neues Syrien versprochen hatten – und die jetzt dasselbe alte Spielbuch anwenden. Ihre offiziellen Medien hetzen gegen ganze Gemeinschaften, um an der Macht zu bleiben.
Und inmitten dieses Chaos greift Israel ein. Als die israelischen Angriffe auf die auf Suwaida vorrückenden Truppen der Übergangsregierung zielten, sagten viele, diese Bomben hätten Leben gerettet. Doch sie besiegelten das Schicksal Suwaidas auf andere Weise. Sie lieferten einen neuen Vorwand. Plötzlich wurde unser Tod als gerechtfertigt angesehen.
Timothy D. Sisk, Professor für internationale Politik in Denver, erklärt, dass sich bestimmte negative »Leidenschaften, auch wenn sie durch Manipulation und durch eine ›Kultivierung von Hass‹ erzeugt wurden«, also künstlich, im Laufe der Zeit verfestigen können. Eine Analyse, die der Historiker Eskandar Sadeghi-Boroujerdi von der University of York teilt. Er warnt vor der »sehr realen Gefahr, dass Pfadabhängigkeiten entstehen. So können Sicherheitsdefizite zu Feindseligkeiten führen und freundschaftliche Beziehungen unterminieren. Zugleich lassen sich solche Mechanismen immer schwerer infrage stellen und überwinden«.
In anderen Worten: Sektarismus ist ein politisches Projekt, kein natürlicher Umstand. Wenn wir nicht vorsichtig sind, wird er zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung.
Wir dürfen Spaltungstaktiken nicht akzeptieren
Was also tun? Wir müssen eine zivile nationale Identität aufbauen, die auf Bürgerrechten gründet, nicht auf Konfessionen. Wir müssen »Minderheitenschutz« als Teilhabe für alle denken, nicht als Sonderstatus. Wir müssen politische Rahmenbedingungen schaffen, die Solidarität über Traumalinien hinweg fördern und nicht die von Assad hinterlassenen Spaltungen noch vertiefen.
Dafür ist es nötig, die Wahrheit zu sagen. Zu benennen, was geschah. Wenn wir klären, wie Sektarismus zur Waffe wurde, vertieft das die Gräben nicht. Es ist der einzige Weg, sie zu überwinden. Es gibt Anzeichen für Heilung: Eine mutige Gruppe syrischer Frauen ist durch die Provinzen gereist. Durch Zuhören und Gespräche haben sie konfessionelle Gräben überbrückt. Sie arbeiteten daran, durch Krieg und Propaganda zerrissene Gemeinschaften wieder zusammenzubringen.
Doch mit der Eskalation der Gewalt ist dies zum Stillstand gekommen. Frieden ist die Voraussetzung für Heilung. Das Blutvergießen muss ein Ende haben. Die Übergangsregierung muss ihre neu gewonnene Autorität nutzen, um Brücken zu bauen statt Mauern. Wenn wir weiter so tun, als existiere der Sektarismus nicht, wenn wir uns weiter an die Worthülse »Minderheitenschutz« klammern und Spaltungstaktiken akzeptieren, werden wir uns nicht weiterentwickeln.
Syriens Zukunft hängt davon ab, dass wir die Komplexität unserer Identitäten annehmen und ihre Instrumentalisierung ablehnen. Wir müssen das Prinzip der Teilhabe über unsere Ängste stellen. Das wird hart und chaotisch sein. Aber wenn es jetzt nicht geschieht, wird Assad – selbst in Abwesenheit – gewonnen haben.
Dies ist eine überarbeitete Übersetzung des englischen Originals. Übersetzt von Clara Taxis.
Der Text erscheint in Kürze auch in einer gemeinsamen Ausgabe von Qantara und dem Magazin Kulturaustausch. Weitere Analysen, Interviews und Reportagen finden Sie in unserem Syrien-Schwerpunkt.
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