Von der Amnestie zur Amnesie
Frau Borgmann, im Libanon gab es zwischen 1975 und 1990 einen Bürgerkrieg, wie geht das Land mit der Erinnerung daran um?
Monika Borgmann: Der libanesische Staat hat seine Vergangenheit nie wirklich aufgearbeitet. Noch heute sprechen viele vom "Krieg der anderen", weil unter anderem Syrien und Israel intervenierten, aber es war nicht nur ein Krieg der anderen. Es gibt keine nationale Erinnerungskultur, nur individuelle, konfessionell geprägte Erinnerungen. Genau dort setzt die Arbeit von unserer Organisation UMAM an: Wir wollen die fragmentierten Erinnerungen allen Libanesen zugänglich machen – auch die blinden Flecke, über die nicht gesprochen wird.
Zum Beispiel?
Borgmann: Bis heute sind die sogenannten Lagerkriege, die während des Bürgerkriegs in den palästinensischen Flüchtlingslagern stattfanden, ein Tabuthema. Ein anderer blinder Fleck sind die Kämpfe innerhalb der einzelnen Religionsgemeinschaften, dabei waren das die brutalsten, weil sie auf engstem Raum stattfanden. Über die Kriege zwischen der schiitischen Hisbollah und der Amal-Miliz von 1987 spricht kaum jemand, weil beide Parteien heute gemeinsame politische Interessen haben. Mit anderen Worten: Die aktuellen politischen Konstellationen entscheiden, worüber gesprochen und was verschwiegen wird.
Was macht Ihre Organisation, um diese Lücken im kollektiven Gedächtnis zu schließen?
Borgmann: Wir möchten die Bevölkerung mit Ausstellungen, Workshops und Filmvorführungen für die Themen zivile Gewalt und Erinnerung sensibilisieren. Wir haben zum Beispiel das erste Mal im Libanon den Film "Schatila. Auf dem Weg nach Palästina" gezeigt, der die Lagerkriege behandelt. Andererseits bauen wir ein öffentliches Archiv auf, das auf den Bürgerkrieg spezialisiert ist, aber auch einen Bezug zur Gegenwart schafft. Unsere Mitarbeiter recherchieren täglich, was zum Bürgerkrieg veröffentlicht wird und wurde: von Zeitungsartikeln und wissenschaftlichen Publikationen bis hin zu Fotos von den nach wie vor 17.000 Vermissten. In der Datenbank Memory At Work machen wir diese Dokumente öffentlich zugänglich. Etwas Vergleichbares – ein funktionierendes nationales Archiv mit Dokumenten zum Bürgerkrieg – gibt es im Libanon nicht.
Warum haben Sie ausgerechnet im Libanon eine Einrichtung wie das UMAM gegründet?
Borgmann: Ich war schon während meiner Studienzeit Ende der 1980er Jahre mehrmals im Libanon. Die Eindrücke vom Bürgerkrieg haben mich damals so stark geprägt, dass ich immer wieder hingefahren bin. Das Land ist unglaublich intensiv – mit all seinen Widersprüchen. Nach meinem Studium fing ich an, als freie Journalistin zu arbeiten, hauptsächlich zu den Themen Gewalt und Erinnerung. Bei meinen Reisen in den Libanon entstand die Idee, einen Film über die Täter zu machen, die 1982 das Massaker an palästinensischen Flüchtlingen in den Lagern Sabra und Schatila verübten. Mit der Recherche vor Ort begann ich 2001, aber ich stellte sehr schnell fest, dass es kein funktionierendes nationales Archiv mit Dokumenten zum Bürgerkrieg gibt – nichts, womit ich die Aussagen der Täter hätte abgleichen können. So entstand die Idee für UMAM, das ich 2004 mit Lokman Slim gegründet habe.
Ihr Film "Massaker" ist ein Essay über kollektive Gewalt. Die Täter von Sabra und Schatila erzählen darin von ihren Erfahrungen. Wie haben Sie diese Männer gefunden?
Borgmann: Sie leben mitten unter uns. Lokman und ich haben uns ins Milieu der ehemaligen Forces Libanaises, einer damals mit Israel verbündeten christlichen Miliz begeben. Weder wollten wir zu ihren Komplizen noch zu ihren Richtern werden – es war ein sehr kompliziertes Verhältnis. Noch schwieriger war es, Vertrauen aufzubauen und die Männer vor der Kamera zum Reden zu bringen. Die Amnestie hat nach dem Bürgerkrieg alle, Opfer und Täter, zum Schweigen verurteilt. Aber nach einer gewissen Zeit haben sie die Kamera vergessen und angefangen, ununterbrochen zu erzählen. Vielleicht das einzige Mal in ihrem Leben. Das war beeindruckend.
Der Film wurde am 25. September 2006 ein einziges Mal im Libanon gezeigt. Wie hat das Publikum reagiert?
Borgmann: Es war ein historischer Tag, denn am gleichen Tag wurde dielibanesische Journalistin May Chidiac Opfer eines Attentats und wir waren unsicher, ob überhaupt jemand kommen würde. Doch das Interesse war so groß, dass wir parallel ein Screening im Foyer des Theaters organisieren mussten. Viele Zuschauer waren geschockt, ein paar verließen den Saal. Ich hatte damals Angst, von Überlebenden des Massakers, von denen mehrere im Publikum saßen, unter Duck gesetzt zu werden, die Identität der Täter freizugeben. Denn die Gesichter der Männer sind im Film nicht zu erkennen. Natürlich hätten wir dem Druck nicht nachgegeben, aber das Gegenteil war der Fall: Die Palästinenser, mit denen ich sprechen konnte, waren erleichtert. Nach 23 Jahren hörten sie endlich die Erzählungen der Täter, die sich mit dem deckten, was sie selbst all die Jahre erzählt hatten.
Die Opfer waren palästinensische Flüchtlinge. Welche Rolle spielt ihre Erinnerung im Libanon?
Borgmann: Die Erinnerungen der Palästinenser spielen in der libanesischen Gegenwart keine Rolle. Von einem Teil der Libanesen werden sie eher als "Bedrohung" wahrgenommen, und das aus zwei Gründen: Einmal waren die Palästinenser im libanesischen Bürgerkrieg nicht nur Opfer, denn die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) war bis 1982 direkt am Krieg beteiligt. Zum anderen sind die meisten Palästinenser Sunniten.
Der Libanon ist ein Land mit 18 Religionsgemeinschaften und einem konfessionellen politischen System. Und 300.000 bis 400.000 palästinensische, meist sunnitische Flüchtlinge einzubürgern – in einem Land mit vier Millionen Einwohnern – würde bedeuten, das Gleichgewicht zwischen den Religionen zu verschieben. Jedenfalls ist das die Angst von vielen Libanesen. Aber die palästinensische Flüchtlingstragödie ist auch Teil der libanesischen Gegenwart. Bislang hatten nicht viele im Libanon den Mut offen zu äußern, dass die Flüchtlinge, die vor allem aus dem Norden Israels und nicht aus dem Westjordanland oder aus dem Gaza-Streifen kommen, wahrscheinlich niemals in ihre ehemaligen Dörfer zurückkehren werden. Heute ist ihre Frustration immens: Während sich Europa gerade den Syrern öffnet, leben die Palästinenser hier seit 1948 unter miserablen Umständen ohne Aussicht auf Veränderung.
Inwiefern spielt die Tatsache, dass Sie Deutsche sind, eine Rolle für das, was Sie machen?
Borgmann: Mich hat die deutsche Nachkriegsdiskussion sehr geprägt. Für mich ist es selbstverständlich, über die Vergangenheit, den Holocaust, zu sprechen. Andererseits hatte Deutschland auch das "Glück" der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse. Im Libanon hat es solche Prozesse nie gegeben. Vielleicht wäre für den Libanon ein engerer "Austausch" mit Deutschland zur deutschen Kriegsaufarbeitung interessant. Aber leider ist der Holocaust im Libanon eine weitere Tabuzone, da er politisch mit Israel verknüpft ist – ein Land, mit dem der Libanon im Kriegszustand ist.
Warum ist kollektives Erinnern so wichtig?
Borgmann: Eine kollektive Erinnerungskultur hätte dazu beitragen können, dass sich der Libanon zu einem Staat mit einer nationalen Identität entwickelt. Stattdessen ist die religiöse Zugehörigkeit heute wichtiger als die nationale. Jedes Land muss sich irgendwann mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen, um sich demokratisch zu entwickeln. Der Libanon zeigt, was passiert, wenn das nicht der Fall ist: Bis heute gibt es keinen Frieden. Viele Libanesen fragen sich noch immer, ob der Krieg jemals aufgehört hat oder ob sie nicht gerade eine weitere Phase durchleben.
Manchmal kann Vergessen überlebenswichtig sein. In anderen Bürgerkriegsländern wie Spanien hat es auch Amnestien gegeben.
Borgmann: Spanien ist ein Erfolgsbeispiel, das Land hat sich nach der Amnestie 1977 zu einer Demokratie entwickelt. Zwar wurde die Franco-Diktatur auch lange Zeit verdrängt, aber das Land setzt sich jetzt mit seiner Vergangenheit auseinander. Im Fall des Libanon ist aus der Verdrängung ein Dauerzustand geworden. Weder Amnestie noch Vergessen haben geholfen: 25 Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs ist der Staat weder demokratisch noch funktionell. Es gibt keinen Präsidenten, keine legitime Regierung und der Staat schafft es nicht einmal, die Hisbollah davon abzuhalten, ohne Parlamentsbeschluss in Syrien zu kämpfen.
Das Interview führte Juliane Pfordte.
© Institut für Auslandsbeziehungen 2016
Eine Kurzfassung des Interviews ist in der Zeitschrift KULTURAUSTAUSCH erschienen.