Ein mutiger Schritt des marokkanischen Königs
Der 10. Oktober 2003 ist für viele Feministinnen und Menschenrechtsaktivisten in Marokko bereits jetzt ein historisches Datum. An diesem Tag – einem Freitag, dem Ruhetag der Muslime – sollte König Mohammed VI. in seiner Thronrede über die Reform des Personenstandsrechts (Mudawwana) sprechen.
Der Monarch - qua Verfassung gleichzeitig Regierungschef, Oberbefehlshaber der Armee, Führer der Gläubigen und laut Artikel 23 sogar heilig und unantastbar – wandte sich zwar wie üblich mit der Formel "Mein liebes Volk" an seine Untertanen und Untertaninnen. Doch was er dann verkündete, war alles andere als gewohnt, sondern die einschneidendste Sozialreform seit der Unabhängigkeit Marokkos:
1) Die Ehefrau und der Ehemann sind gemeinsam und gleichberechtigt für den Haushalt und die Familie verantwortlich; die bisherige Pflicht der Frau, dem Mann zu gehorchen, wird abgeschafft.
2) Männer und Frauen können gleichberechtigt und aus freien Stücken eine Ehe schließen. Die Frau braucht keinen Vormund mehr, kann sich aber vertreten lassen Die Möglichkeiten des Mannes, bis zu vier Frauen zu heiraten (Polygamie), werden stark eingeschränkt.
3) Der Ehemann kann seine Frau nicht mehr ohne weiteres verstoßen; den Frauen wird die Scheidung erleichtert. Das Aussprechen der Scheidungsformel (talaq) reicht nicht mehr aus, ebenso wenig wie der Vollzug der Ehescheidung vor einem Notar (adul). Das Scheidungsersuchen des Mannes oder der Frau muss in jedem Fall von einem staatlichen Familiengericht autorisiert werden.
4) Das Mindestheiratsalter für Frauen wird auf 18 Jahre heraufgesetzt; Ausnahmen sind mit richterlicher Genehmigung möglich.
5) Kinder, die vor der Ehe (während der "Verlobungszeit") gezeugt wurden, werden bei Eheschließung als gemeinsame Kinder anerkannt. Weigert sich ein Mann, die Vaterschaft anzuerkennen, kann er zum Vaterschaftstest gezwungen werden. Bisher war das in Marokko nicht möglich, weshalb sich viele Väter der Verantwortung für nichteheliche Kinder entzogen, was die Zahl allein erziehender Mütter in Marokko in die Höhe trieb.
Emanzipation im Einklang mit dem Islam
Mit dieser Reform gehören Marokkos Frauen nun zumindest theoretisch zu den emanzipiertesten der arabischen Welt. "Wir sind jetzt Klassenletzte in Nordafrika", meinte die algerische Juristin und Feministin Nadia Ait Zai am Tag nach der Thronrede ironisch. "Nur in Algerien brauchen Frauen jetzt noch einen männlichen Vormund, wenn sie heiraten wollen."
König Mohammed VI. berücksichtigte bei der Reform internationale Rechtsstandards und blieb in seiner Eigenschaft als oberster Rechtsgelehrter zugleich im islamischen Argumentationsrahmen. So gelang es ihm, alle Seiten zufrieden zu stellen – sogar die Islamisten, die jegliche Änderungen abgelehnt hatten: "Wir sind einverstanden mit der Reform, weil der Islam die Basis bleibt," sagte ein Sprecher der "Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung" (PJD).
"Wir akzeptieren das neue Recht, weil nicht die Frau, sondern die Familie im Mittelpunkt steht." Aber auch die 34jährige Buschra Abdu, Generalsekretärin der eher säkular orientierten Liga für Frauenrechte (LDDF) in Casablanca freute sich, obwohl sie eigentlich für eine Trennung von Religion und Staat plädiert: "Diese Reform ist ein großer Schritt nach vorn. Wir haben so viele Jahre gekämpft, so lange gewartet, und schon fast nicht mehr daran geglaubt. Und jetzt bewegt sich doch etwas."
Früher lebenslang minderjährig
Das bisherige marokkanische Familienrecht aus dem Jahr 1957 basierte auf einer archaischen Auslegung der sunnitisch-malekitischen Rechtsschule. Marokkos Frauen besaßen zwar seit 1956 das aktive und passive Wahlrecht und das Recht auf kostenlose Schulbildung, von dem sie in großer Zahl profitierten. Aber selbst Ministerinnen, Unternehmerinnen und Goldmedaillengewinnerinnen blieben laut Gesetz lebenslang Minderjährige.
"Das Grundprinzip der Ehe lautete: Gehorsam im Tausch gegen Versorgung", erklärt die Kommunikationswissenschaftlerin Leila Rhiwi, eine politisch unabhängige Menschenrechtsaktivistin, die seit 2001 das landesweite feministische Bündnis "Frühling der Gleichberechtigung" koordiniert: "Das bedeutete: der Mann verdiente das Geld, und die Frau gehorchte. Tat sie das nicht, konnte er sie jederzeit ohne einen Richter verstoßen."
Schere zwischen altem Gesetz und Realität
Das marokkanische Familienrecht befand sich nicht nur im Widerspruch zu internationalen Konventionen, zu denen Marokko sich bekannt hat, sondern auch zur Realität der Frauen und Familien im Land: ein Drittel der marokkanischen Erwerbstätigen sind Frauen. In jeder fünften marokkanischen Familie hat die Mutter das Sagen, weil sie geschieden oder verwitwet ist, oder weil der Mann im Ausland arbeitet. Zudem sitzen dank einer Quote neuerdings mindestens 30 Frauen im marokkanischen Parlament - knapp 10 Prozent der Abgeordneten. Selbst eingefleischte Islamisten und Erzkonservative räumten ein, dass Reformen überfällig waren.
Doch wie diese Reformen aussehen sollten, darüber gab es in den vergangenen Jahren eine heftige Debatte, die tiefe soziale und kulturelle Gräben in der marokkanischen Gesellschaft sichtbar machte. Die Abneigung von Marokkos islamischen Rechtsgelehrten (Ulama) gegen den Westen und die europäisch geprägte Moderne ist nicht neu: Das Familienrecht als Symbol islamischer Identität war in Marokko schon in der Kolonialzeit ein Reizthema.
Anfänglich Widerstand von Konservativen und Islamisten
Jeder noch so zaghafte Reformversuch rief die erzkonservativen Ulama auf den Plan. Die Auseinandersetzung verschärfte sich zusätzlich durch den wachsenden Einfluss des politischen Islam in Marokko. Als 1998 bekannt wurde, dass im Rahmen des von der Weltbank gesponserten "Nationalen Plans zur Integration von Frauen in die Entwicklung" die Polygamie und die Verstoßung abgeschafft werden sollten, spielten die Islamisten das sensible Thema Familienrecht zum politischen Dauerbrenner hoch.
Die mit schätzungsweise einer Million Mitgliedern größte Islamistenorganisation, die außerparlamentarische Vereinigung "Gerechtigkeit und Spiritualität" unter Führung von Scheich Abdessalam Yassine, sowie die im Parlament vertretene islamistische Partei "Gerechtigkeit und Entwicklung" (PJD) beschimpften den "Plan" als eine Verschwörung des US-Imperialimus, der die islamische Kultur zerstören wolle.
Ähnlich tönten die konservativen arabischen Nationalisten, vor allem aus dem rechten Lager der Istiqlal-Partei. Der marokkanische Politikwissenschaftler Mohammed Tozy hält die von den Islamisten angefachte Debatte über Frauenrechte für politisch motiviert: "Die Islamisten interessieren sich nicht inhaltlich für die Frauenrechte, sondern sie benutzen die Debatte, um in der Diskussion zu bleiben und politisches Terrain zu gewinnen. Sie wollen die politische Macht."
Die Islamisten sind in Marokko populär, weil sie als einzige politische Kraft radikal die politische Legitimität der Monarchie in Frage stellen. "In der Zeit des Propheten gab es keine Erbherrschaft und auch keine Erbmonarchie," sagt die 27jährige Ärztin Fatima Kassid, ein Mitglied des inneren Machtzirkels von 'Gerechtigkeit und Spiritualität'. "Die Monarchie wurde der Umma, der Gemeinschaft der Gläubigen, aufgezwungen. Dabei sollte das Volk seinen Herrscher doch selbst wählen."
Richtige Wahl des Zeitpunkts
Den Zeitpunkt der historischen Thronrede Mohammeds VI. im Oktober 2003 halten Kenner der marokkanischen Innenpolitik vor diesem Hintergrund für bewusst gewählt. Nach den islamistischen Bombenattentaten von Casablanca am 16. Mai 2003, bei denen über 40 Menschen starben und die das bis dahin friedliche Marokko bis ins Mark erschütterten, befand sich die islamische Opposition in der Defensive – der richtige Moment, um das kontroverse Projekt durchzusetzen.
Noureddine Ayouch, erfolgreicher Werbeunternehmer und Sponsor ambitionierter Frauenprojekte in Casablanca, wunderte sich darüber, wie gering der Widerstand der Islamisten am Ende ausfiel: "Das war alles? Keine lauten Proteste, keine Gewalt? Hätte man die Reformen da nicht auch zehn Jahre früher verabschieden können?"
In der Realität wenig Auswirkung
Künftig werden die Marokkanerinnen also zumindest theoretisch zu den emanzipiertesten Frauen der arabischen Welt zählen, zusammen mit den Tunesierinnen. Allerdings werden die meisten vorerst nur wenige Möglichkeiten haben, ihre Rechte auch wahrzunehmen – wegen des schlecht funktionierenden marokkanischen Justizapparats und aus materieller Not.
Mehr als zwei Drittel der Frauen in Marokko können nicht lesen und schreiben; in manchen ländlichen Gebieten haben 90 Prozent der Mädchen noch nie eine Schule von innen gesehen. Knapp die Hälfte der Marokkaner muss pro Tag mit einem Euro zum Leben auskommen.
In den Slums rund um die großen Städte Marokkos leben Millionen Menschen unter menschenunwürdigen Bedingungen, ohne Zugang zu sauberem Wasser und elementarer medizinischer Versorgung.
Historisches Signal
Die weitgehende Gleichstellung der Frauen trägt zweifellos zur Demokratisierung der marokkanischen Gesellschaft bei. Doch das politische System Marokkos wird dadurch nicht automatisch demokratischer – im Gegenteil. Die Reform hilft Mohammed VI., die absolute Monarchie zu stabilisieren, denn sie bindet die kleine, aber ökonomisch bedeutsame liberale Mittelschicht, die sich wie der Mahkzen (Herrschaftsapparat) selbst von den Islamisten bedroht fühlt.
Dennoch: die Reform des marokkanischen Personalstatuts durch Mohammed VI. ist ein historisch bedeutsames und mutiges Signal. Sie zeigt, dass islamische Identität und universale Menschenrechtsideen miteinander vereinbar sind. Und viele Marokkanerinnen haben seit dem 10. Oktober 2003 zum ersten Mal seit langem wieder das Gefühl, dass sich in ihrem Land etwas bewegt.
Martina Sabra
© Qantara.de 2004