In der Praxis viele Hindernisse
Die Umsetzung des neuen Familienrechts, der so genannten Moudawwana, stößt auf zahlreiche Hindernisse. Und auch die revidierte Form des Rechts beinhaltet noch keine rechtliche Gleichstellung von Frauen und Männern. Von Beat Stauffer
Gut drei Jahre ist es her, dass König Mohammed VI. mit seiner Rede vor dem marokkanischen Parlament den Startschuss zur Einführung des neuen Familien- und Frauenrechts, der Moudawwana, gegeben hat. Diese Gesetzesänderung hat Marokko international viel Ruhm eingetragen.
Mit der Umsetzung sieht es aber, zumindest aus der Sicht kritischer Medien, weit weniger rosig aus. "In der ganzen Welt wird Marokko als vorbildlich bezüglich der Frauenrechte im arabischen Raum dargestellt", schrieb "Le Journal Hebdomadaire". "Doch die marokkanischen Behörden unternehmen nicht genug, um die Moudawwana den Bürgerinnen und Bürgern zu erklären und um sie seriös anzuwenden."
Kaum Veränderungen in der Praxis
Ebenso kritisch lautet auch die Zwischenbilanz unabhängiger marokkanischen Frauenorganisationen. Für Mina Tafnout, Vorstandsmitglied der Association Démocratique des Femmes du Maroc (ADFM), stellt die Einführung der neuen Moudawwana zweifellos einen großen Fortschritt dar.
Doch in der Praxis lasse sich noch keine große Veränderung feststellen. Frauen litten wie bisher unter Diskriminierungen, unter häuslicher Gewalt und unter patriarchalischen Verhaltensmustern, erklärt Tafnout, und alte Praktiken wie Polygamie oder Eheschließungen mit minderjährigen Mädchen seien immer noch an der Tagesordnung.
Auch Tafnout ortet das Hauptproblem in der Umsetzung des neuen Familienrechts. In mancherlei Hinsicht seien die Bestimmungen des neuen Gesetzes sehr vage gehalten, und die Richter seien kaum auf die Arbeit mit der neuen Moudawwana vorbereitet worden. Aus diesem Grund hänge sehr vieles von der Person des Richters und seiner Weltanschauung ab.
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In den Augen der marokkanischen Frauenorganisation ADFM ist auch die marokkanische Bevölkerung kaum richtig über die Neuerungen der Moudawwana informiert worden.
Zwar habe das staatlich-marokkanische Fernsehen vor zwei Jahren gelegentlich Werbespots ausgestrahlt, erläutert Tafnout. Diese seien allerdings auf Hocharabisch und zudem sehr technisch gehalten gewesen und hätten die große Masse der schlecht ausgebildeten und häufig noch analphabetischen Frauen gar nicht erreicht.
Für Tafnout ist es deshalb kaum erstaunlich, dass das neue Familienrecht bei vielen Männern schlecht angekommen ist und zum Teil rundweg abgelehnt wird. "Ich habe den Eindruck, dass sich viele Männer von der neuen Moudawwana bedroht fühlen und den Verlust ihrer traditionellen Rolle als Familienoberhaupt und der damit verbundenen Privilegien befürchten", erklärt Tafnout.
Die ADFM habe unzählige Telefonanrufe und Drohbriefe von aufgebrachten Männern erhalten. Dennoch gibt sich die Frauenrechtlerin optimistisch, dass sich diese tief verankerte Mentalität mittelfristig ändern lasse. Dafür brauchte es allerdings eine groß angelegte Aufklärungsarbeit in Schulen und Moscheen, aber auch in den Medien.
Ganz ähnlich beurteilt die zweite große unabhängige Frauenorganisation in Marokko, die Ligue Démocratique pour les Droits de la Femme (LDDF), die Lage. Die Organisation hat im Frühjahr 2006 eine erste Zwischenbilanz vorgelegt, in der unter anderem die Bewilligungen für Eheschließungen mit Minderjährigen sowie für Polygamie statistisch erfasst sind.
Nach Ansicht der LDDF verstoßen die meisten dieser Sonderbewilligungen eindeutig gegen die neue Moudawwana, welche derartige Eheschließungen nur unter sehr spezifischen Bestimmungen vorsieht.
Misstrauen gegenüber Islamistinnen
Bezüglich einer Zusammenarbeit mit islamistischen Frauen und deren Verbänden ist bei beiden Frauenorganisationen eine große Skepsis zu spüren. Sie werfen der im Parlament zugelassenen islamistischen Partei PJD eine unklare und widersprüchliche Haltung zum neuen Familienrecht vor.
Zwar hätten alle Abgeordneten der PJD der Gesetzesänderung im Parlament zugestimmt, doch seither seien in der islamistischen Presse regelmäßig kritische bis ablehnende Beiträge zu lesen.
Undurchsichtig ist für Mina Tafnout auch die Rolle, welche die international bekannte Islamistin Nadia Yassine spielt: Zum einen fungiere sie als informelle Sprecherin von "Gerechtigkeit und Wohlfahrt", der größten islamistischen Bewegung des Landes, welche sich stets klar gegen die Revision des Familienrechts ausgesprochen hatte, zum andern propagiere sie einen "islamischen Feminismus".
Die betont laizistischen und die islamischen Frauenorganisationen scheint auf jeden Fall ein tiefer Graben zu trennen, der sich zurzeit höchstens punktuell überbrücken lässt.
Viele der Verfechterinnen eines modernen, freiheitlichen Familienrechts misstrauen den Motiven der Islamistinnen und sehen in ihrem Engagement in Frauenorganisationen und -kommissionen vor allem eine Strategie der Unterwanderung und der Machtergreifung. Der Umstand, dass etwa die LDDF wiederholt von islamistischer Seite verbal und auch physisch angegriffen worden ist, dürfte dieses Misstrauen eher noch verstärkt haben.
Auch Aicha Ech-Channa, die wohl bekannteste marokkanische Frauenrechtlerin, ist schon wiederholt zur Zielscheibe von Islamisten geworden. Doch die Gründerin von "Solidarité Féminine", die seit mehr als 20 Jahren für die Rechte lediger Mütter kämpft, lässt sich durch solche Angriffe nicht aus der Ruhe bringen.
Geduldig listet sie die Diskriminierungen auf, welche das neue Familienrecht nach wie vor enthält. Doch gleichzeitig äußert sie auch Verständnis für ein behutsames Vorgehen in dieser Sache.
"Wenn die neue Moudawwana noch weiter gegangen wäre", sagt Ech-Channa, "dann wäre sie mit Sicherheit von konservativen und fundamentalistischen Kreisen abgelehnt worden."
Ech-Channa setzt denn auch eher auf Überzeugungsarbeit denn auf einen Konfrontationskurs. Und sie plädiert mit Nachdruck für neue Formen der sexuellen Erziehung, um tief sitzende Widerstände gegenüber einer gleichberechtigten Beziehung der Geschlechter wirkungsvoll anzugehen.
Ein schwieriger Kampf
Etwas positiver fällt die Einschätzung des bisher Erreichten aus der Sicht des Schweizer Hilfswerks cfd aus, welches "Empowerment-Programme" für Frauen und benachteiligte Kinder im Maghreb unterstützt. Sie habe den Eindruck, dass marokkanische Frauen heute sehr viel leichter eine Scheidung einreichen könnten, sagt Severina Eggenspiller, Projektkoordinatorin für den Maghreb.
Gleichzeitig weist auch sie auf die Probleme mit der Umsetzung des neuen Gesetzes, auf eine Reihe von Mängeln sowie auf die kaum verbesserte Lage für ledige Mütter hin. In Marokko könne sich allerdings wegen der Tabuisierung vor- und außerehelicher Sexualität kaum jemand leisten, politische Lobbyarbeit für diese Menschen zu unternehmen.
In ihren Forderungen für die Zukunft stimmen die drei marokkanischen Frauenorganisationen weitgehend überein. Zuerst einmal müsse die Polygamie prinzipiell verboten werden, weil sie für Frauen eine Geringschätzung bedeute, sagt Mina Tafnout.
Als Zweites gelte es, das immer noch islamisch geprägte Erbrecht zu revidieren. Und schließlich sei es von großer Wichtigkeit, das Sorgerecht für Kinder, das Frauen immer noch benachteilige, entsprechend anzupassen.
"Dies ist der nächste Kampf, den wir führen müssen!", sagt Tafnout mit Nachdruck. Dabei lässt sie erkennen, dass dieser Kampf nicht einfach sein wird; denn auch in Marokko verfügen die Verfechter der Scharia über gute Karten.
Beat Stauffer
© Qantara.de 2006
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