In der Defensive

Die ehemals progressive "Muhammadiyah", Indonesiens zweitgrößte muslimische Organisation, befindet sich heute mehr und mehr in dem Dilemma, gerade durch ihre moderate Haltung immer weniger überzeugen zu können: Den Radikalen ist sie zu liberal, den Liberalen zu konservativ. Von Bettina David

Nahezu unbeachtet von der westlichen Medienberichterstattung hat im letzten Monat eine der größten muslimischen Massenorganisationen den hundertsten Jahrestag ihrer Gründung gefeiert: Die indonesische "Muhammadiyah" beging Ende November ihr großes Jubiläum.

Mit über 25 Millionen Anhängern ist sie Indonesiens zweitgrößte muslimische Organisation. Zusammen mit der an die 30 Millionen Mitglieder starken traditionalistischen "Nahdlatul Ulama" (NU) steht sie für den moderaten Islam, der seit langem das gesellschaftliche Leben im südostasiatischen Inselreich prägt.

1912 von Ahmad Dahlan (1868-1923) in der zentraljavanischen Sultansstadt Yogyakarta gegründet, steht die Bewegung für die Vision einer indonesisch-islamischen Moderne. Dahlan war unter anderem beeinflusst von den Ideen Muhammad Abduhs und anderer Wegbereiter einer grundlegenden Reform des Islams, die dessen Reinigung von "unislamischen" lokalen Traditionen anstrebten, eine strikte Rückbesinnung auf den Koran und die Sunna forderten und ausgehend von einer rationalen Interpretation dieser Quellen zeigen wollten, dass sich Islam und moderne Wissenschaften und Technik nicht ausschließen.

Ahmad Dahlan entstammte einer Familie von Religionsgelehrten. Trotz seiner Orientierung am nahöstlichen Reformislam blieb er jedoch bis zu seinem Lebensende weiterhin auch im Dienst des Sultanspalastes – einem traditionellen Zentrum des für seinen religiösen Synkretismus bekannten javanischen Islams.

Zivilgesellschaftliches Engagement

Zentrale der Muhammadiyah in Jakarta; Foto: Wikipedia
Eine geradezu calvinistisch anmutende Betonung von Werten wie Selbstdisziplin, Pünktlichkeit, Fleiß, selbstlosem wohltätigen Einsatz für die Gemeinschaft, Ordnung und persönlicher Verantwortung Gott gegenüber prägen das in der "Muhammadiyah"-Ideologie propagierte Ethos, schreibt David.

​​Diese javanische Haltung des dezidierten Eintretens für die eigenen Überzeugungen, ohne es dabei unbedingt zur direkten Konfrontation kommen zu lassen, prägte auch die von ihm gegründete Organisation. Die "Muhammadiyah" verfolgt die Verbreitung ihrer Ideen über ein weites Netz an sozialen, karitativen und edukativen Institutionen. Tausende Moscheen, über 10.000 Kindergärten und Schulen, 172 Hochschulen, unzählige Krankenhäuser, Waisen- und Altenheime im ganzen Land zeugen von ihrem zivilgesellschaftlichen Engagement.

Im Vordergrund stand die Betonung von Bildung und rationalem Denken. Eine geradezu calvinistisch anmutende Betonung von Werten wie Selbstdisziplin, Pünktlichkeit, Fleiß, selbstlosem wohltätigen Einsatz für die Gemeinschaft, Ordnung und persönlicher Verantwortung Gott gegenüber prägen das in der "Muhammadiyah"-Ideologie propagierte Ethos.

Von Anfang war auch die Bildung von Frauen ein wichtiges Anliegen. Die Frauenorganisationen der "Muhammadiyah", "Aisyiyah" und "Nasyiatul Aisyiyah", setzen sich unter anderem für gendersensible Koraninterpretationen und auf der grassroots-Ebene für Empowerment von Frauen ein.

Aus den Schulen und Universitäten der Organisation gingen zahlreiche Persönlichkeiten hervor, die das politische, gesellschaftliche und religiöse Leben Indonesiens von der Kolonialzeit bis in die heutige Ära der Demokratisierung maßgeblich prägten und den Grundstein legten für die Herausbildung der muslimischen Mittelklasse.

Flexibles Anpassungsvermögen

Im Gegensatz zur NU finden sich die Anhänger der "Muhammadiyah" zumeist im urbanen Milieu. Dass die Bewegung hundert Jahre tiefgreifender politischer und sozialer Transformationsprozesse überstanden hat, verdankt sie nicht zuletzt ihrem Vermögen, sich flexibel und pragmatisch an die jeweiligen kulturellen und sozio-politischen Gegebenheiten anzupassen.

In den 1980er und 1990er Jahren beinflusste der von prominenten liberalen Muslimen wie Nurcholis Madjid und Abdurrahman Wahid aus dem Umfeld von "Muhammadiyah" und NU vertretene Neo-Modernismus den indonesischen Mainstream-Islam. Das Gedankengut von Denkern wie Fazlur Rahman und Nasr Hamid Abu Zaid wurde damals wohl in keinem muslimischen Land so offen und intensiv gerade auch an islamischen Hochschulen rezepiert und diskutiert wie in Indonesien.

Doch das Erstarken islamistischer Bewegungen und der vom Westen betriebene "War on Terror" der letzten Dekade haben auch in Indonesien deutliche Spuren hinterlassen. Nachfolger des liberalen und für einen dezidiert pluralistischen Islam einstehenden "Muhammadiyah"-Vorsitzenden Ahmad Syafi'i Ma'arif ist seit 2005 der innerhalb der Organisation eher den Hardlinern zuzurechnende Din Syamsuddin.

Din Syamsuddin; Foto: AFP
Wende zum Konservatismus: Nachfolger des liberalen und für einen dezidiert pluralistischen Islam einstehenden "Muhammadiyah"-Vorsitzenden Ahmad Syafi'i Ma'arif ist seit 2005 der innerhalb der Organisation eher den Hardlinern zuzurechnende Din Syamsuddin.

​​Die Bewegung hat einen deutlichen Rechtsruck erlebt, progressive Persönlichkeiten wie Syafi'i Ma'arif verfügen längst nicht mehr über den Einfluss, den sie einmal ausübten. Ihre Stimmen werden aber durchaus noch gehört und auch in den Medien offen diskutiert.

Gerade diese integrative Fähigkeit der Organisation, sowohl progressive als auch konservative Strömungen unter ihrem Dach zu vereinigen und eine mal mehr nach links, mal mehr nach rechts ausschlagende Balance zu wahren, scheint durch globale Polarisierungszwänge zunehmend bedroht. Seit den 1990er Jahren und verstärkt nach dem Ende der Suharto-Ära finden transnationale Ideologien wie die der Muslimbruderschaft und "Hizbut Tahrir" unter Studenten eine stetig wachsende Anhängerschaft.

Schwindende Dynamik

Heute wirkt die "Muhammadiyah", die einst die Jugend mit ihrer Vision von einer wahrhaft islamischen Gesellschaft begeisterte, im Vergleich zu den neuen dynamischen Bewegungen wie ein in überkommenen Hierarchien und rigider Bürokratie erstarrter Koloss zumeist älterer Männer und Frauen.

Idealismus und das Angebot, tatkräftig die Gesellschaft den eigenen Vorstellungen entsprechend umgestalten zu können, findet die Jugend nun in Gruppierungen unter dem Banner des politischen Islams, die in ihrer transnationalen Ausrichtung auch der deutlich gewachsenen Sehnsucht nach globaler Positionierung, Anerkennung und Teilnahme entsprechen.

So befindet sich die ehemals so progressive "Muhammadiyah" mehr und mehr in dem Paradox, gerade durch ihre moderate Haltung immer weniger überzeugen zu können: Den Radikalen ist sie zu liberal, den Liberalen zu konservativ. Moderat zu sein wirkt zunehmend als Schwäche und Unvermögen, klare Positionen zu beziehen. Statt neue Ideen einzubringen, scheint sie inzwischen hauptsächlich für defensiv anmutende Reaktionen zu stehen. Tonangebend im öffentlichen Diskurs sind vermehrt die radikaleren Stimmen.

Aber während einerseits die Unterwanderung der eigenen Moscheen und Institutionen durch Gruppierungen des politischen Islams wie der PKS (Wohlfahrts- und Gerechtigkeitspartei) beklagt wird, ist andererseits nicht zu übersehen, dass ähnliche Ideen längst im internen Diskurs auch von "Muhammadiyah"-Zöglingen vertreten werden.

Unter Din Syamsuddin reagierte die Organisation zudem auf den inländischen islamistischen Terrorismus und die vermehrten Fälle von Gewalt gegen religiöse Minderheiten wie die "Ahmadiyah" zumeist widersprüchlich und ausweichend.

Im Rahmen der Jubiläums-Feierlichkeiten organisierte die "Muhammadiyah" von Ende November bis Anfang Dezember eine International Research Conference. Hier sprachen nicht nur "Muhammadiyah"-Persönlichkeiten, sondern es waren auch renommierte internationale Wissenschaftler eingeladen, um über Geschichte und Zukunft der "Muhammadiyah" und die dringend nötige Neubestimmung ihrer Position und gesellschaftlichen Vision zu sprechen. Dass dabei der Dialog mit dem Westen der Bewegung noch immer wichtig zu sein scheint, stimmt moderat hoffnungsvoll.

Bettina David

© Qantara.de 2012

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de