Wahhabiten im Abseits
Schon am äußeren Erscheinungsbild ist die zunehmende Islamisierung im Land abzulesen. Immer mehr muslimische Frauen tragen einen Schleier. Diese Entwicklung hatte Präsident Suharto in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts eingeleitet. Um Indonesier gegen die Verlockungen des Kommunismus zu immunisieren, förderte er gezielt die Intensivierung der Religiosität der Menschen.
Noch vor 50 Jahren fühlte sich die Mehrzahl der in Indonesien tonangebenden Javaner – 42 Prozent der Bevölkerung– mehr ihrer javanischen Kultur als dem Islam verbunden. Heute beten sie fünf Mal am Tag und gehen, wenn möglich, auf Pilgerfahrt nach Mekka. Auf Java gibt es kein Dorf mehr ohne eine Moschee.
Kein neues Phänomen
Im indonesischen Islam hat es schon immer einen extremistischen Flügel gegeben. Zwischen 1950 und 1966 kämpften in Aceh (Sumatra), Sulawesi und Westjava Guerillas der "Darul Islam" für einen Islamstaat. Einige terroristische Versuche Anfang der 1980er Jahre wurden zerschlagen. Aber auch in Afghanistan kämpften damals etwa 3.000 indonesische Mudschaheddin, bezahlt von den Amerikanern und geistlich betreut von Osama bin Laden, gegen die Sowjets.
Die demokratische Öffnung 1998 ermöglichte es den Extremisten, an die Öffentlichkeit zu treten. Manche dieser Gruppen, wie etwa die für ihre Gewalttätigkeit berüchtigte "Islamische Verteidigungsfront" (FPI), wurde von Polizei und Militär protegiert - als Gegenkraft gegen die für mehr Demokratie demonstrierenden Studenten. Es waren Militärs, die es den bei Yogyakarta ausgebildeten Dschihad-Kämpfern ("Laskar jihad") gegen den ausdrücklichen Befehl von Präsident Abdurrahman Wahid ermöglichten, auf die Molukken überzusetzen, um den damaligen islamisch-christlichen Konflikt am Laufen zu halten.
Seit Jahren propagiert Saudi-Arabien über großzügige Spenden an islamische Bildungseinrichtungen den puritanischen Wahhabismus. Bedenklich ist, dass sich der islamische Fundamentalismus gerade unter den Studenten der großen staatlichen säkularen Universitäten ausbreitet, etwa "Hizb ut-Tahrir Indonesia", die ein südostasiatisches Kalifat anstreben. Die kleinen terroristischen Gruppen, die allerdings vom Sicherheitsapparat in äußerster Schärfe verfolgt werden, rekrutieren sich vielfach aus ehemaligen Afghanistankämpfern.
Der islamische Mainstream
Politischen Einfluss haben diese Gruppen allerdings bis heute nicht. Der Versuch, eine Verpflichtung der Muslime zur Einhaltung der islamischen Scharia in die Verfassung aufzunehmen, wurde 2001 durch den verfassungsgebenden Volkskongress mit 81 Prozent der Stimmen abgeschmettert.
Das und die im Vergleich zu den etwa 220 Millionen indonesischen Muslimen geringe Zahl von etwa 500 indonesischen IS-Kämpfern zeigt etwas anderes. Nämlich dass sich der indonesische islamische Mainstream gegenüber dem Extremismus als widerstandsfähig erwiesen hat.
Repräsentanten dieses Mainstreams sind zwei islamische Großorganisationen: Die ländlichere, stark inkulturierte "Nahdlatul Ulama" (NU) mit 40 Millionen Mitgliedern und die städtische, "modernistische" etwa 30 Millionen Mitglieder starke "Muhammadiyah". Beide Gruppen lehnen einen Islamstaat als für Indonesien unpassend ab. Sie erkennen den jetzigen indonesischen Staat, dessen Staatsphilosophie Pancasila den Anhängern aller Religionen gleiche Rechte als Staatsbürger zuschreibt, als die definitive Form der politischen Organisation des indonesischen Großraumes an.
Islam ohne Sonderstellung
Zweimal hat sich die staats- und gemeinschaftstragende Ethik des indonesischen Mainstream-Islams bewiesen. 1945, nach der Erklärung der Unabhängigkeit Indonesiens, beschloss die verfassungsgebende Versammlung einstimmig, einen vorher mühsam ausgehandelten Zusatz zur Staatsphilosophie Pancasila zu streichen: Dieser Zusatz hätte die Muslime verpflichtet, Scharia-Gesetze einzuhalten.
Doch nach Ansicht der Versammlung hätte dies eine Diskriminierung nichtmuslimischer Indonesier bedeutet. Tatsächlich räumt die Staatsverfassung von 1945 dem Islam keinerlei Sonderstellung ein, obwohl die Muslime mit 88 Prozent die überwältigende Mehrheit im Land stellen. Die Pancasila, auf die sich der Mainstream-Islam in den 1980er Jahren ausdrücklich festgelegt hat, ist die Grundlage für die solide Einheit des äußerst pluralen indonesischen Staates.
Noch erstaunlicher war, wie Indonesien durch die gefährlichen Turbulenzen seit dem Sturz Suhartos 1998 kam, verglichen etwa mit dem, was in Ägypten 13 Jahre danach passierte. Damals nahmen Indonesier mit bestem islamischem Leumund das Heft in die Hand. Suhartos Protégé und Nachfolger, B. J. Habibie, Chef der "Organisation islamischer Intellektuellen" (ICMI), stellte innerhalb weniger Tage die entscheidenden Weichen für den Übergang des Landes zur Demokratie.
Sein Nachfolger Abdurrahman Wahid, 15 Jahre lang Oberhaupt der NU, sicherte die Demokratisierung weiter ab. Zur gleichen Zeit setzte der frühere Chef der "Muhammdiyah", der als Hardliner bekannte Amien Rais, als Vorsitzender des verfassungsgebenden Volkskongresses (MPR) durch, dass in die ursprüngliche, extrem autoritäre Verfassung von 1945 grundlegende demokratische Mechanismen eingesetzt wurden: freie Wahlen etwa oder die entscheidendsten Menschenrechte aus der Erklärung der Vereinten Nationen von 1948.
Dem islamischen Mainstream ist es vor allem zu verdanken, dass der von 1999 bis 2002 zwischen Christen und Muslimen in zwei Regionen Ostindonesiens wütende, brutale Bürgerkrieg – mit etwa 8.000 Toten und Massakern auf beiden Seiten – nicht auf die Hauptinseln Java und Sumatra überschwappte. In Indonesien war es, entgegen weit verbreiteter Klischees, dass Islam und Demokratie nicht zusammengehen, die große islamische "Masyumi-Partei", die sich, zusammen mit den beiden christlichen und der "Sozialdemokratischen Partei" (PSI), gegen Sukarno für ein demokratisches Indonesien aussprach.
Der Wahhabismus als Irrlehre
Wird sich der – von ihnen selbst als "gemäßigt" bezeichnete – Islam gegen die Radikalisierung halten können? "Nahdlatul Ulama" und "Muhammdiyah" sind sich dieser Herausforderung voll bewusst. Die "Nadlatul Ulama" hat sogar in einer Fatwa den saudischen Wahhabismus zur Irrlehre erklärt. Beide sehen als ihre Gegner nicht etwa Christen oder (balinesische) Hindus an, sondern islamische Extremisten.
Diese Toleranz bezieht sich allerdings nicht auf sogenannte "Sekten", wie die Schiiten und Anhänger der Ahmaddiyah, oder auch einheimische messianische Bewegungen wie "GAFATAR". Deren Existenzberechtigung wird über das gesamte islamische Spektrum hinweg abgelehnt. "Nahdlatul Ulama" und "Muhammadiyah" haben sich allerdings wiederholt gegen Gewalttätigkeiten gegenüber solchen Gemeinschaften ausgesprochen. Sie werfen dem Staat vor, seiner Pflicht zum Schutz aller Bürger aus Opportunismus und Anpassung an populäre Forderungen extremistischer Gruppen nicht nachzukommen.
"Nahdlatul Ulama" und Muhammadiyah wissen um die Attraktivität radikaler Gruppen auf ihre jüngere Generation. Andererseits gibt es in beiden Organisationen offene, überzeugte, die Religionsfreiheit unterstützende demokratische Jugendgruppen. Zukunftsweisend ist, dass "Nahdlatul Ulama" und "Muhammadiyah", aber auch muslimische Intellektuelle, häufig Vertreter der anderen offiziell anerkannten Religionsgemeinschaften (Christen, Hindus, Buddhisten und Konfuzianer) zu ihren Veranstaltungen einladen.
Vermutlich wird Indonesiens Zukunft von anderen Faktoren abhängen. Wenn die Mehrheit der Indonesier innerhalb der bestehenden Demokratie auf eine bessere Zukunft für ihre Kinder hoffen kann, werden sich die Extremisten nicht durchsetzen. Schließlich waren es islamorientierte Politiker, die die Forderungen der Studenten aufgriffen und das Nach-Suharto-Indonesien demokratisierten. Viele Indonesier trauen dem neuen Präsidenten Joko Widodo trotz mancher Schwächen zu, Indonesiens Demokratie weiter zu festigen.
Franz Magnis-Suseno
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