"Den Islam den Islamisten wegnehmen!"
Herr Sansal, Sie zeichnen in Ihrem neuen Buch ein bedrohliches Bild vom Islamismus. Wie haben Sie in Algerien die ersten Islamisten erlebt, die in den 1960er Jahren dort ankamen?
Boualem Sansal: Ich bin kein Muslim, ich bin nicht gläubig. Die Leute, die damals ankamen, waren seltsam. Sie hatten Bärte und haben sich anders verhalten und gekleidet als die Algerier. Und sie hielten revolutionäre Reden. Das war interessant. Die meisten kamen aus Saudi-Arabien oder Ägypten, sie sprachen vom Kampf gegen das atheistische, sozialistische Regime. Sie redeten vom Islam und von der Freiheit. Das war um 1960. 1980 waren die Islamisten überall im Land. Und der Krieg fing an.
Waren das "Allahs Narren", nach denen die deutsche Ausgabe Ihres Buches benannt ist?
Sansal: Damals haben wir sie schon "Allahs Narren" genannt. Denn man muss wirklich verrückt sein, um den ganzen Tag in der Moschee zu verbringen, zu beten und immer die gleichen Reden zu schwingen: Allah, Allah, Allah!
Offenbar hat man damals in Algerien ihren politischen Einfluss unterschätzt. Macht Europa den gleichen Fehler?
Sansal: Ja. Zuerst hat der Islam Einzug gehalten und einen Platz in der westlichen Gesellschaft gesucht. Er hat ihn nicht gefunden. Jede Religion möchte in einem Land offiziell legitimiert sein. Man will Tempel oder Moscheen bauen und die Religion unterrichten. Die westliche Gesellschaft ist ziemlich atheistisch, das interessiert sie nicht. Aber die Muslime wollen einen Platz im Staat. Das gab Probleme. Weil der Islam nicht vorankommt, verwandelt er sich in Islamismus.
In Ihrem Buch beklagen Sie, dass es keine Debatte über den Islam gibt, auch nicht in Europa. Muslimischen Intellektuellen werfen Sie sogar "ohrenbetäubendes Schweigen" vor.
Sansal: Wir haben den Fehler gemacht zuzuschauen, wie die Islamisten unsere Gesellschaft verändert haben. Sie haben das Verhalten der Frauen und Jugendlichen verändert. Junge Leute wollen Spaß haben. Aber sie gehen weder zum Fußball noch an den Strand, sie gehen in die Moschee. Und wir Intellektuellen haben zugeschaut, wie aus sozialen Veränderungen politische und philosophische wurden. Die Intellektuellen hatten keinen Mut, kein politisches Gespür.
Heißt das, man braucht auch eine Debatte über den Islam?
Sansal: Ja, der Islamismus geht aus dem Islam hervor. Man muss die Beziehung des Islam zur Gesellschaft, zur Demokratie, zu den Frauen, zur modernen Welt hinterfragen. Und zum Staat. Was für uns selbstverständlich ist, die Vorstellung vom Staat, können Sie einem Muslim, der sein ganzes Leben mit dem Islam verbracht hat, nicht erklären. Denn im Islam existiert diese Vorstellung nicht. Da ist es vielmehr so: Gott regiert die Menschheit.
Das würde heißen, dass Islam und Demokratie nicht vereinbar sind?
Sansal: Dass sie es nicht sind, muss nicht heißen, dass sie es nicht sein können. Christentum und Demokratie waren früher auch unvereinbar. Da war Gott an der Regierung, und die Kirche hat die Seelen der Menschen regiert. Dann wurde die Demokratie geboren, und es gab einen Krieg zwischen Religion und Demokratie.
In Ihrem Buch sagen Sie, es sei zu spät für eine politische Debatte über den Islamismus in Europa. Warum?
Sansal: Alles hat seine Zeit. Es gab eine Zeit des Verstehens, der Analyse. Das war intellektuelle Arbeit. Ich hätte mein Buch zwanzig Jahre früher schreiben müssen. Dann gibt es eine Zeit der Politik. Aber auch dafür ist es jetzt zu spät! Die Islamisten sind da. Wir in den muslimischen Ländern haben keine Macht mehr über die Muslime in Europa, und ihr habt keine Macht über sie. Darum ist es zu spät.
Heißt das, die europäischen Demokratien sind nicht stark genug, um den Islamismus einzudämmen?
Sansal: Sie haben nicht mehr die Kraft, die Probleme des 21. und 22. Jahrhunderts anzupacken. Man steht da wie das Kaninchen vor der Schlange. Man hat Angst, den Islam zu kritisieren, niemand bewegt sich. Aber man muss sich bewegen!
In welche Richtung?
Sansal: Das ist schwierig. Ich habe westlichen Politikern oft vorgeworfen, dass sie Diktatoren und Islamisten statt Demokraten bei uns unterstützt haben. Dann sagen sie mir, die gibt es ja nicht bei euch, wir können nur Diktatoren oder Islamisten unterstützen. Sie haben recht! Die algerische Demokratie können wir nicht in Europa kaufen, wir müssen sie bei uns erfinden.
Man muss aber auch aufhören, Waffen an Diktatoren zu verkaufen und Islamisten zu unterstützen - wie Deutschland es getan hat und immer noch macht. Ich kritisiere auch muslimische Intellektuelle. Was machen sie in Europa? In Paris sagen, die algerische Regierung ist nicht demokratisch? Sie müssen das in Algier sagen! In den muslimischen Ländern müssen Demokraten für die Demokratie kämpfen. Und Muslime für den Islam. Sie müssen ihn den Islamisten wegnehmen. Es ist an ihnen, den Islamismus zu bekämpfen, denn der zerstört ihre Religion.
Interview: Aya Bach
© Deutsche Welle 2013
Redaktion: Nikolas Fischer/DW & Arian Fariborz/Qantara.de
Boualem Sansal (64) schreibt über sein Heimatland Algerien, das von islamistischem Terror und Bürgerkrieg traumatisiert ist. Geboren 1949, kam Sansal als gelernter Ingenieur und promovierter Ökonom erst spät zum Schreiben. Seitdem bringt er sich mit hochpolitischen Büchern in die Schusslinie. Als Direktor des algerischen Industrieministeriums wurde er entlassen, von Islamisten wurde er bedroht. Doch er entschied sich, in Algerien zu bleiben. Seit seinem ersten Roman 1999 erhielt er zahlreiche Literaturpreise. In Deutschland wurde er vor allem durch den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2011 bekannt.
Boualem Sansal: Allahs Narren (frz.: Gouverner au nom d'Allah), Merlin Verlag 2013, ISBN 9783875363098