Romanerzählungen als Gratwanderung

Der renommierte syrische Autor berichtet im Gespräch mit Marcia Lynx Qualey, weshalb er sein Land verlassen musste und warum es so schwierig ist, als Schriftsteller im Exil Romane zu verfassen.

Von Marica Lynx Qualey

Sie halten sich gegenwärtig in Ägypten auf. Werden Sie dort länger bleiben?

Nihad Siris: Sagen wir, Ägypten wird eine Zwischenstation sein – nicht nur für eine kurze Zeit, aber auch nicht für immer. Von Ägypten aus kann ich reisen, was mir in Syrien zurzeit unmöglich wäre. Deshalb ist Ägypten das perfekte Land für mich: Erstens liebe ich das Land und Kairo ganz besonders; und zum anderen bietet Ägypten uns Syrern die Möglichkeit zu bleiben, zu gehen und zu kommen – und das immer, wann wir es wollen.

Woran werden Sie in Ägypten arbeiten? An einem neuen Roman, an einer Fernsehserie?

Siris: Nein, für das Fernsehen schreibe ich nicht mehr. Dazu wären stabile Verhältnisse in Syrien notwendig, die es momentan nicht mehr gibt. Wenn ich einen Roman schreibe, kann ich den überall herausbringen, aber für Fernsehdrehbücher brauche ich eine Produktionsfirma. Und das ist in Syrien für mich unmöglich geworden.

Gibt es in Syrien noch eine Gruppe von Autoren, die sich untereinander treffen und austauschen?

Siris: Ja, wenn es auch sehr wenige sind, so gibt es doch noch Autoren, die sich treffen. Als ich noch in Syrien lebte, war es meist so, dass wir uns irgendwo trafen und nach einer Weile – nach Tagen, Wochen oder Monaten – fühlten wir uns an dem Ort nicht mehr sicher und mussten uns einen neuen Treffpunkt suchen. Wir hatten auch mit anderen Schwierigkeiten zu kämpfen: Wir waren etwa zehn Autoren und als wir uns ein neues Café suchen mussten, in dem wir uns treffen konnten, stellten wir fest, dass für einige von uns der Weg von zu Hause zum Café nicht mehr sicher war, was das Ganze sehr gefährlich machte.

Buchcover 'Ali Hassans Intrige' von Nihad Siris im Lenos-Verlag
Bissig und politisch unbequem: Nihad Siris' Roman "Ali Hassans Intrige" aus dem Jahr 2008 ist eine Satire auf den Führerkult einer arabischen Diktatur.

​​All das hatte bereits begonnen, bevor ich das Land Anfang 2012 verließ, doch nun passiert das sehr häufig. Ich höre von dieser Gruppe Schriftsteller, dass sie praktisch jede Woche oder zumindest einmal im Monat den Ort wechseln müssen, an dem sie sich treffen. Es gestaltet sich also immer schwieriger für sie.

Ein weiteres Problem betrifft den Gesprächsstoff. Worüber sollen wir sprechen? Es ist doch unmöglich geworden, einfach weiter über Kunst und Literatur zu sprechen. Also, worüber sollten wir – oder sie, besser gesagt, da ich ja nicht mehr dort bin – sprechen? Natürlich über den Krieg, was sie darüber gehört oder was sie beobachtet haben.

Und in dieser Hinsicht ist es auch nicht sicher, darüber offen zu sprechen. Man darf keine Namen nennen oder sagen, was genau geschehen ist. Wenn man in Syrien überleben will, muss man sich ruhig verhalten. Oder natürlich Dinge sagen, die der Regierung gefallen. Und das ist auch der Grund dafür, warum ich das Land verlassen musste – weil ich es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren konnte: Ich konnte nicht sagen, was mein Gewissen mir auftrug zu sagen. Und deshalb ging ich lieber.

Warum schreiben Sie noch immer Belletristik?

Siris: Zuerst einmal muss ich sagen, dass ich große Probleme damit habe, weiterhin fiktionale Geschichten zu schreiben, was ich sehr schlimm finde. Natürlich schreibe ich weiterhin, aber ich denke, dass ich es nicht mehr tue wie zuvor. Früher, in normalen Zeiten, stand ich auf, duschte, trank meinen Kaffee und setzte mich hin zum Schreiben. Das tat ich jeden Tag, zwei oder drei Stunden. Und wenn ich an einem Fernsehfilm arbeitete, hab ich auch mal zehn Stunden gearbeitet.

Und heute?

Siris: Heute plane ich mehr. Und ich schreibe mehr Artikel und gebe Interviews. Ich glaube nicht, dass unsere Autoren heute tatsächlich noch fiktionale Literatur produzieren. Dafür herrscht in Syrien momentan zu viel Unruhe – Schießereien, Granateneinschläge und Zerstörungen – und jede Fiktion, die man behandelt, wirkt da wie reine Fantasie, wie Parfüm.

Geschosseinschläge in einer Wohnung in Aleppo; Foto: AFP/Getty Images
Spuren der Gewalt: "Für fiktionale Literatur herrscht in Syrien momentan zu viel Unruhe – Schießereien, Granateneinschläge und Zerstörungen – und jede Fiktion, die man behandelt, wirkt da wie reine Fantasie", sagt Nihad Siris.

​​Wenn man aber über diese Unruhen schreibt, sieht man sich schnell einem großen Problem gegenüber: Wenn man schreibt, muss man seinen Lesern etwas erzählen, was sie noch nicht wissen. Aber über die aktuelle Situation wissen sie mehr als man selbst. Und da sie eine Menge wissen, werden sie schnell erkennen, dass unsere Geschichten falsch sind. Deshalb ist das Geschichtenerzählen heute eine richtige Gratwanderung geworden.

Und Kurzgeschichten schreiben Sie keine?

Siris: Das habe ich versucht. Ich habe ein paar Kurzgeschichten geschrieben und auch kurze Theaterstücke. Eine davon wurde in der Zeitschrift "Al-Hilal" veröffentlicht, die in Kairo erscheint. Dann machte ich ein Experiment und veröffentlichte sie bei Facebook. Es kam aber keinerlei Reaktion von meinen Freunden dort, jedenfalls keine, wie ich sie normalerweise bekam, wenn ich etwas postete.

Buchcover 'The Silence and the Roar' von Nihad Siris
Der in Syrien verbotene Roman "The Silence and the Roar" von Nihad Siris ist in mehrere Sprachen übersetzt worden und handelt von Fathi Sheen, einem verfolgten Autoren. Siris erhält für sein literarisches Wirken den diesjährigen Coburger Rückert-Preis.

​​Dieses Experiment war lehrreich für mich, zeigte es mir doch, dass sie keine fiktionalen Geschichten über ihr Leben lesen wollten. Sie wollen, dass ihnen jemand berichtet, wie einige Soldaten erschossen, gefangen genommen oder verletzt wurden, oder dass ein Panzer zerstört wurde.

Das ist auch der Grund dafür, weshalb ich aufgehört habe zu schreiben. Nun ließe sich natürlich einwenden: Na gut, dann schreibe doch nichts über den Krieg, die Demütigungen und die Folter. Versuche es doch mit einer Liebesgeschichte. Aber dafür ist jetzt nicht die Zeit. Und das ist nicht nur mein Gefühl, sondern entspricht auch dem der Leser. Nehmen Sie doch als Beispiel nur mal Ahlam Mosteghanemi, die algerische Autorin, die den Bestseller "Black Suits you" geschrieben hat. Im Internet habe ich erfahren, dass sie von vielen jungen Menschen gelesen wird. Nicht aber in Syrien.

Haben Sie schon einmal daran gedacht, eine Autobiographie zu schreiben?

Siris: Ich verarbeite ja schon viel Autobiographisches in meinen Erzählungen, aber da habe ich dann schon einiges verändert. Das ist eine gute Methode, um die Fiktion intensiver und realer werden zu lassen. Das ist Literatur: Von etwas zu schreiben, das man sehr gut kennt – etwas, das nur du selbst kennst. Das ist der Kern guter Literatur.

Heißt das, dass Sie selbst Fathi Sheen sind, der Protagonist aus "The Silence and the Roar"?

Siris: Ich habe diesem Charakter viel aus meinem eigenen Leben mitgegeben – oder von dem, was ich mir erträumte – insbesondere, was die Frau betrifft, die er an seiner Seite hat. Wahrscheinlich besteht darin auch der besondere Reiz der Fiktion. Allerdings gibt es da noch eine wichtige Gemeinsamkeit: Wir beide hassen den Autoritarismus.

Was hält Ihre Familie von Ihren Geschichten?

Siris: Ich glaube, Sie mögen sie, insbesondere meinen ersten Roman "The North Winds". Darin geht es vor allem um meine Vorfahren zur Zeit des Ersten Weltkrieges. Mein Vater erzählte uns Geschichten darüber, wie mein Großvater als Soldat zum Krieg eingezogen wurde, dann verschwand, und für tot gehalten wurde. Nach drei oder vier Jahren tauchte er aber wieder auf. Und wie hatte er überlebt? Weil er ein Schachspieler war. Den Offizieren war aufgefallen, dass er ein großes Talent für dieses Spiel hatte. Und da sie meinten, dass es ein Spiel für smarte Offiziere und Aristokraten sei, schickten sie ihn nicht ins Feld, sondern ließen ihn Schach spielen.

Und Ihre Familie ist nicht besorgt um Sie, weil Sie über das Regime schreiben?

Siris: Natürlich sorgen sie sich um mich. Einige meiner Brüder denken auch anders als ich, was sie allerdings nicht dazu veranlasst, mich darum zu bitten, mit dem Schreiben aufzuhören. Ich würde das auch entschieden ablehnen, wenn sie es täten.

Interview: Marcia Lynx Qualey

© Qantara.de 2013

Aus dem Englischen von Daniel Kiecol

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de